Heute vor 5 Jahren: 96 schlägt den FC Sevilla mit 2:1

19 Jahre nach dem letzten Auftritt auf europäischer Bühne war es wieder soweit: Hannover 96 feierte in der letzten Runde der Europa-League-Qualifikation die ersehnte Rückkehr ins internationale Geschäft. Schon der Weg zurück hatte es in sich gehabt und brannte sich mit all seinen Facetten tief in die 96-DNA ein: Nach dem Suizid von Robert Enke waren der gesamte Verein und das Umfeld am Boden angelangt, wahrscheinlich sogar noch ein Stück tiefer. Nicht nur die bleischwer über der Stadt hängende Trauer musste irgendwie bewältigt werden, nebenbei galt es im grauen Winter 2009 auch noch, so etwas banal erscheinendes wie eine Fußballsaison zu bestreiten.

Die Mannschaft mit dem damaligen Trainer Andreas Bergmann schien an dieser Situation zu zerbrechen und taumelte, wie unwichtig es auch immer noch schien, dem Abstieg entgegen. Bevor im Januar 2010 Mirko Slomka den Trainerposten übernahm, hatte Hannover 96 die letzten drei Spiele verloren. Unter der Regie des ehemaligen 96-Jugendtrainers kamen sieben weitere Niederlagen in Folge dazu. Als Slomkas Amt schon wieder zur Disposition stand, gelang schließlich doch noch die Wende. Mit einem 3:0-Auswärtssieg vor zehntausend mitgereisten Fans sicherte sich 96 im letzten Saisonspiel in Bochum den Klassenerhalt. Dieser kleinen Sensation folgte dann die große: Mit ebenso energischem wie trockenem Konterfußball strafte Hannover 96 all jene Lügen, die die letztjährige Rettung vor dem Abstieg nur für aufgeschoben gehalten hatten. Statt abzusteigen, überraschte eine umgekrempelte und verjüngte Mannschaft die Liga und erreichte den vierten Platz, der das Ticket für die Play-Offs zur Europa-League bedeutete. Im milden Frühling 2011 in Hannover war damit klar: An dem Ort, an dem die Mannschaft etwas mehr als ein Jahr zuvor den Sarg ihres Mannschaftskapitäns zum Mittelkreis getragen hatte, würde es mindestens ein Europapokalspiel geben. Hannover 96 hatte tief in die Knie gehen müssen, und jetzt setzte die Mannschaft zum großen Sprung an.

„Hauptsache nicht Sevilla“

Mit dieser Euphorie im Rücken konnte 96 der Auslosung relativ gelassen entgegen blicken. Als Neuling im Kreis der Teilnehmer ohne nennenswerte Vorleistungen drohte ein schwieriger Gegner, aber das Vertrauen in die eigene Qualität war nach der furiosen Saison groß. Trotz dieser Gewissheit bestand im Vorhinein Einigkeit: Der FC Sevilla sollte es bitteschön nicht werden. Der Sieger des Vorgängerwettbewerbs von 2006 und 2007 galt als Topfavorit auf den Titel, wusste nicht nur auf dem Platz bekannte Namen in den eigenen Reihen, sondern trat auch mit einem großen Trainertalent namens Marcelino Garcia Toral an. Als der für 96 bestimmte Loszettel dann natürlich doch den FC Sevilla als Gegner angab, wurde bei einigen Fans zumindest die Hoffnung auf ein Weiterkommen getrübt, nicht aber die Vorfreude auf ein einmaliges Erlebnis: Das Hinspiel würde im eigenen Stadion steigen.

Als die Begegnung am 18. August endlich vor der Tür stand, machten manche nur geringe Aussichten auf den Einzug in die Gruppenphase aus, während andere zumindest den Glauben an eine kleine Chance gegen den übermächtigen Gegner aus Andalusien aufrecht hielten. Wohl alle 96-Fans waren sich jedoch darin einig, dass schon das Gefühl auf dem Weg zum Stadion und die Atmosphäre in der Stadt außergewöhnlich waren. Die Vorfreude auf das lang erwartete Spiel und die Besonderheit des Anlasses ließen jeden Anwesenden spüren, was es mit der Floskel der „Festtagsstimmung“ auf sich hat und, wie ein Spieler es später zusammenfassen würde, dass „die ganze Stadt elektrisiert war“. Vermutlich entsprang die Empfindung eher dem eigenen Innenleben, aber entlang des Maschsees kam man an diesem sehr warmen Sommerabend nicht an der Feststellung vorbei, dass der Boden wackelte. Was der Verein vor dem Spiel auf T-Shirts hatte drucken lassen, wurde mit dem Anpfiff um 20:30 Uhr zur Realität: „Auf nach Europa!“

(Für 96 wichtiger) Bilderbuchstart

Normalerweise setzen sich die Menschen in Hannover auf der Westtribüne spätestens kurz vor dem Anpfiff hin. Normalerweise passiert in den ersten Minuten eines Qualifikationsspiels nichts Besonderes. Normalerweise. Im Fall der Begegnung zwischen Hannover 96 und dem FC Sevilla traf beides nicht zu. Ebenso wie die Fans nicht daran dachten, mit dem Stehen und Singen aufzuhören, verzichtete 96 auf das übliche Abtasten.

Grundformationen

Grundformationen in der ersten Halbzeit: 4-4-2 gegen 4-4-2 mit allerdings unterschiedlichen Fixpunkten. Die so entstehenden klaren Zuordnungen nutzten 96 mehr als den Gästen.

In den ersten Minuten der Partie zeigte 96 bereits zwei der wesentlichen Merkmale des eigenen Spiels: Abdellaoue und Schlaudraff störten zusammen mit den Flügelspielern den Spielaufbau Sevillas früh. Die übrigen 96-Akteure rückten relativ klar an ihrem Gegenspieler orientiert im Pressing nach, sodass die Aufbauspieler der Spanier unter Druck zunächst keine Wege nach vorne fanden oder zum langen Ball greifen mussten. Hatten die Hannoveraner selber den Ball, steuerten sie sehr zielgerichtet die Flügel an, von wo es schnell in die Tiefe auf Abdellaoue gehen sollte. Gegen das etwas zu passive 4-4-2-Pressing der Andalusier reichte der enge Kontakt von Sergio Pinto zu den Innenverteidigern aus, um in Ruhe das Spiel verlagern und über den Flügel aufrücken zu können. Mit Schmiedebach und Schlaudraff orientierten sich die beiden zentralen Mittelfeldspieler bereits frühzeitig auf die Seiten, sodass zusammen mit den Außenbahnspielern Rausch und Stindl der Durchbruch gesucht werden konnte. Schmiedebach zog es oft sogar bis an die rechte Außenlinie auf die Höhe der Sevilla-Abwehr, sodass Stindl mehr Raum für spielmachende Aktionen blieb. So erzeugte 96 vor allem auf dem rechten Flügel in der Anfangsphase Überladungen und konnte dank dieser guten Vorbereitung auch eigene Ballverluste mit einem recht intensiven und effektiven Gegenpressing kompensieren. Sevilla fand daher kaum ins Spiel, dem offensiv ausgerichteten Sechser Trochowski wurde das Verbinden der Mannschaftsteile stark erschwert. Mit vielen langen Seitenwechseln forcierte die Slomka-Elf zudem das (wie sich später zeigen sollte Marcelino-typische) intensive Verschieben der Spanier, um den Gegner zu ermüden und bei sich ergebenden Lücken direkt ins letzte Drittel vorstoßen zu können.

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Zwei Beispiele für die Flügelüberladungen Hannovers im Ballbesitz in der ersten Halbzeit. Auf der linken Seite seltener und wegen Rauschs Geradlinigkeit etwas anders angelegt als rechts, wo Schmiedebachs breite Position Stindl mehr Freiheiten in Richtung des Halbraums verleiht.

Die wesentliche Torgefahr ergab sich nach dem bekannten Muster aus der erfolgreichen Vorsaison: Nach Balleroberungen wurde ohne Umschweife der Weg in die Tiefe gesucht, die schnell nachrückenden Flügelspieler sollten mit den gut ausweichenden Stürmern innerhalb weniger Sekunden zum Abschluss kommen. Nach Schmiedebachs Ballgewinn demonstrierten Abdellaoue und Rausch diesen direkten Konter-Stil bereits in der dritten Minute, doch die flache Hereingabe des Norwegers wurde von Palop vor Schlaudraffs Füßen abgefangen. Das gleiche Schema wiederholte sich keine drei Minuten später, diesmal allerdings mit einem wesentlich erfolgreicheren Ende: Nachdem Rausch im Pressing zunächst von Spahic überspielt wurde und Sevilla mit Coke und Navas über die rechte Seite aufrückte, eroberte Schmiedebach den Ball gegen Negredo. Pinto schlug den Ball aus der eigenen Hälfte direkt in die Spitze, wo Spahic zwar vor Schlaudraff klärte, damit aber ideal für Abdellaoue auflegte. Der Norweger steckte den Ball direkt zwischen den beiden Innenverteidigern durch, Schlaudraff schloss aus halblinker Position im Strafraum mit dem rechten Außenrist ab. Der Ball passierte Palop und zappelte in der kurzen Ecke im Netz.

Glücklicherweise hatte sich seit dem Anpfiff noch immer niemand hingesetzt, auf den Sitzen hielt es im Stadion spätestens jetzt keinen Fan mehr. Und spätestens jetzt kam auch das Wackeln des Bodens nicht mehr nur von Innen.

Hannover nutzt die Spielstandseffekte – Sevilla müht sich

Der Zwischenstand spielte 96 natürlich nicht nur aus psychologischen Gründen in die Karten, sondern passte auch ideal in das Umschalt-Konzept: Die Heimmannschaft konnte jetzt den Ball noch früher lang in den Angriff und auf die nun höher stehenden Außenstürmer spielen, den zweiten Ball attackieren und auf die Chance für den Schnellangriff lauern. Die Last, das Spiel gestalten zu müssen, und die Gefahr des Ballverlustes lagen jetzt noch mehr auf Seiten der Andalusier, die sich spätestens gegen die sehr konsequente und gut aufgelegte 96-Endverteidigung schwer taten. Wenngleich sich durch die etwas zu engen hannoverschen Mannorientierungen im Spiel gegen den Ball immer mal wieder Räume zum Aufrücken für Sevilla öffneten, geriet das von Ron-Robert Zieler gehütete Tor nur nach Eckbällen oder Distanzschüssen in den Blick.

Pressing96_klare Zuordnungen und Nachrücken

96-Pressing in der ersten Halbzeit meistens mit dem dargestellten Muster von vereinzelt mannorientiert aufrückenden Spielern und einer hohen Grundposition. Wenn Stindl (und Rausch) aber mal nach innen zu einem der Sechser pressten, konnte Sevilla über die Außenbahnen aufrücken.

Der jetzt weiter zurückfallende Kanouté vermochte das Ballbesitzspiel der Gäste immerhin ein wenig zu erleichtern und half beim Auflösen kleiner Unterzahl-Situationen, während 96 die sich gelegentlich bietenden Umschaltmomente nicht genau genug ausspielte. Mit dem vorläufigen Höhepunkt eines von Zieler einigermaßen sensationell an den Pfosten gelenkten Abschlusses von Negredo verflachte das Spiel bei zunehmenden Feldvorteilen Sevillas, aber 96 konnte damit angesichts der Führung gut leben. Nach etwas mehr als einer halben Stunde musste Palop sogar die große Chance zum 2:0 vereiteln, als Stindl nach einem der vielen schnellen langen Bälle in die Spitze vor dem Tor Moa Abdellaoue bedient hatte.

Statt die Führung auszubauen und die unvermindert blendende Stimmung im Stadion anzuheizen, trat wenige Minuten nach dieser großen Chance das Gegenteil ein: Sevilla löste sich nach einem Einwurf hinten herum und 96 rückte nicht schnell genug heraus. Coke umdribbelte Rausch und spielte im Zentrum Negredo an, der den Ball allerdings an Cherundolo verlor. Doch leider nur vorübergehend. Der Stockfehler des 96-Kapitäns am eigenen Strafraum wurde zur Einladung für die Andalusier. Kanouté legte auf Coke ab, der Negredo durch die Schnittstelle zwischen Schulz und dem herausrückenden Pogatetz bediente. Der Spanier legte vor Zieler quer auf Kanouté, der den Ball zum Ausgleich zehn Minuten vor dem Halbzeitpfiff nur noch ins leere Tor einschieben musste.

An den Abläufen auf beiden Seiten änderte sich nach dem Treffer zum 1:1 nichts, sodass es eigentlich mit diesem für 96 nicht allzu günstigen Zwischenstand in die Halbzeit gegangen wäre. Aber nach einer abgefangenen Flanke erkannte Zieler den freien Raum im Mittelfeldzentrum und Pinto konnte das von den aufgerückten Gästen freigelassene Mittelfeld überbrücken. Rausch zog den Weg zum Tor frei, Schlaudraff dribbelte über die linke Seite in Richtung des Strafraums und bediente Schmiedebach, der ihm den Ball technisch hochwertig zurück in den Lauf lupfte. Schlaudraff wählte wie schon vor dem Führungstor aus ähnlicher Position eine unorthodoxe, überraschende Variante und versenkte den Ball dieses Mal mit dem linken Außenrist volley im langen Eck – 96 hatte damit nicht nur einen neuen Euphorieschub freigesetzt, sondern ging auch mit der für die eigene Spielweise wichtigen Führung in die Kabine.

Nervenspiel nach der Pause

Sevillas Coach Marcelino versuchte mit einem Wechsel zur zweiten Halbzeit, das Spiel zu drehen. Für den blassen Armenteros beorderte er Diego Perotti auf die linke Außenbahn. Ergänzt wurde diese Maßnahme mit einer kleineren taktischen Anpassung, indem der Trainer seine Mannschaft offenbar zu mehr Aktivität im Pressing aufgefordert hatte. Die Andalusier rückten jetzt vor allem auf den Flügeln energischer auf die 96-Außenverteidiger heraus und standen im Verbund etwas höher. Da sich 96 aber auch weiterhin auf lange Bälle in die Spitze und Flügelangriffe konzentrierte, wurde damit lediglich der Ort des Kampfes um den zweiten Ball etwas weiter vom Sevilla-Tor ferngehalten. Im Ballbesitz und bei Konteransätzen von Sevilla schaltete sich jetzt auch der bis dahin sehr zurückhaltend auftretende Sechser Fazio stärker mit ein und verringerte die Abstände im Sevilla-Mittelfeld ein wenig. Zusammen mit dem im Vergleich mit Armenteros aktiveren Perotti konnten die Gäste so mehr Offensivwucht erzeugen. Für große Änderungen am Spielrhythmus oder am Ergebnis fielen diese Änderungen allerdings zu gering aus und 96 verteidigte weiterhin zu konsequent. Der steigenden Dominanz der Gäste war allerdings auch eine ermüdungsbedingt abnehmende Griffigkeit im Pressing und Gegenpressing auf Seiten von 96 zuträglich, die den Andalusiern mehr Ruhe am Ball erlaubte.

96 gelang auf dem Weg nach vorne abgesehen von Momenten schneller Angriffe mit langen Bällen auf Abdellaoue und Ablagen nicht viel. Die Slomka-Elf fokussierte sich weiterhin auf die rechte Seite mit den dorthin ausweichenden Schmiedebach und Schlaudraff und konnte ein paar gute, schnelle Dreieckskombinationen um Stindl herum vorzeigen. Palop musste allerdings nur noch nach Standardsituationen ins Spiel eingreifen. Die mit der Einwechslung von Didier Ya Konan für den Doppeltorschützen Schlaudraff erhoffte Belebung der Durchschlagskraft war von kurzer Dauer, hatte aber immerhin einen gefährlichen Distanzschuss des ansonsten um Absicherung bedachten Sechsers Sergio Pinto zur Folge. Da diesem Versuch kein Erfolg beschieden war, musste 96 in der zittrigen Schlussphase noch einige Flügelangriffe und Flanken der Gäste überstehen, bis der Abpfiff die kleine Sensation nach der großen Sensation nach der mittleren Sensation besiegelte – Hannover 96 stand nach dem Sieg im Hinspiel der Play-offs zumindest mit einem Bein in der Gruppenphase der Europa-League.

Fazit

96 zeigte im August 2011 eine sehr stabile Leistung in allen Bereichen und unternahm gegen einen noch spürbar in der Findungsphase befindlichen FC Sevilla einen wichtigen Schritt zum späteren Weiterkommen. Gegen einen im Ballbesitz etwas zu biederen, zu starr an seinen Positionen festhaltenden Favoriten kam der Underdog Hannover mit seiner Underdog-Spielweise auch dank eines sehr günstigen Spielverlaufs zu einem verdienten Sieg. Zwar ist die sehr flügellastige Spielweise mit vielen longline-Pässen und langen Schlägen aus der Abwehr aus heutiger Sicht weder besonders ansehnlich, noch dauerhaft erfolgversprechend. Aber 96 setzte seinen Plan konsequent um und wusste mit Flügelüberladungen und anschließendem gutem Gegenpressing zu überzeugen. Das Pressing gefiel mit einer grundsätzlich hohen Aktivität und einer energischen Umsetzung, wenngleich es mitunter zu mannorientiert interpretiert wurde und damit vor allem auf den Flügeln Raum zum Aufrücken anbot. Das etwas zu riskante Herausrücken der Innenverteidiger wurde von der Marcelino-Elf nicht gut genug genutzt, obwohl über die spielerisch sehr vielversprechende rechte Seite mit Coke, Jesus Navas und dem unterstützenden Kanouté genug Möglichkeiten vorhanden gewesen wären.

Für damalige taktische Verhältnisse zeigte 96 eine ordentliche Leistung gegen einen individuell stark aufgestellten Gegner, sodass Slomkas kämpferische Kontertruppe um die sehr gut aufgelegten Haggui, Schmiedebach, Schlaudraff und Abdellaoue den 44.000 Fans im Stadion und einigen mehr vor dem Fernseher ein emotional nur schwer zu überbietendes Erlebnis bescherte. Das 1:1 im Rückspiel bedeutete eine Woche später die Veredlung des guten ersten Auftritts.

Aber nicht nur unter 96-Fans, sondern auch in Sevilla wird man das Spiel in Hannover vielleicht nicht vergessen haben: Hannover 96 ist bis zum heutigen Tag der letzte Verein, der den FC Sevilla in der Europa-League bezwingen konnte.

 

Das Spiel in voller Länge findet sich hier.

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