Samstag, 17:01, HDI-Arena in Hannover. Der vierte Offizielle hebt die Anzeigetafel in den Regen, Artur Sobiech steht zur Einwechslung in der 75. Minute bereit. Neben seiner in grün angezeigten Rückennummer neun leuchtet eine rote sechs auf. Ceyhun Gülselam läuft zur Seitenlinie, Sobiech betritt den Platz. Gülselam geht zur Bank, Tayfun Korkut gibt ihm einen Klaps auf den Rücken, seine Mitspieler auf der Bank applaudieren und jeder einzelne schlägt bei ihm ein. Ein großer Teil der 41.400 Zuschauer im Stadion spendet ebenfalls Beifall. Doch dieser Applaus ist anders als der seiner Mitspieler. Es mischt sich kaum wegzudiskutierender Hohn in diese Bekundungen. Der Stadionsprecher reagiert sehr umsichtig und verzichtet darauf, die Fans den Namen des soeben Ausgewechselten rufen zu lassen, wie er es einige Minuten zuvor noch getan hatte. „Den Platz verlässt der Spieler mit der Rückennummer 6, Ceyhun Gülselam. Neu in der Partie, unser Spieler mit der Rückennummer neun, Artur?“ -„Sobiech!“. Eine gewisse Erleichterung in dieser Antwort ist nicht zu leugnen.
Aktuell polarisiert wohl kein anderer 96-Spieler so wie Ceyhun Gülselam. Er wird im Internet, im Stadion, in den Zeitungen oder in den Pressekonferenzen seit Wochen kritisiert, doch das Raunen und Stöhnen begann im Spiel gegen Wolfsburg teilweise bereits, bevor er einen Pass spielte und endete erst Sekunden nachdem der Ball auch wirklich sein vermutetes Ziel verfehlt hatte. Auch wenn es wohl absolut sinnlos ist, macht sich Jaime die Mühe, einen etwas detaillierteren Blick auf die Kritik an Gülselam und ihre (angeblichen) Hintergründe zu werfen. Es wird wohl kaum jemanden überzeugen, der nicht überzeugt werden kann/will. Aber es ist den Versuch wert. Vorweg: Nein, ich möchte niemandem erklären, wie er ein Fußballspiel zu gucken hat. Und nein, ich behaupte nicht, mit allem richtig zu liegen.
Direkt zu Stärken – (angebliche) Schwächen – Hintergründe der Kritik – Schlussbemerkungen
Gülselam – der Unauffällige, der Unspektakuläre, der Unterschätzte, der Ungeliebte
Dass ich den (ehemaligen) türkischen Nationalspieler mehrmals lobend hervorgehoben habe, ist möglicherweise bekannt. Auch wenn das immer wieder kritisiert wurde, kommt man nicht umhin, Gülselams Spielweise (und auch seine Stärken) insgesamt etwas näher zu beleuchten. Um sich der derzeitigen Kontroverse zu nähern, beginne ich daher mit einer Darstellung dessen, was Ceyhun Gülselam aus meiner (und wohl nicht nur meiner) Sicht wertvoll und interessant macht.
Wer den Goalimpact noch nicht kennt, sollte das ändern. Jetzt. Alles über 100 ist überdurchschnittlich, ab 26 wird eine altersbedingte Abnahme des GI angenommen (Gülselam ist dieses Jahr 26 geworden). Wer vorher die Ansicht vertrat, Gülselam wäre „nicht bundesligatauglich“ und ganz gönnerhaft behauptet hat, „in der zweiten Liga könnte er bestimmt einen guten Backup abgeben“ und sie jetzt immer noch vertritt, muss eigentlich nicht weiterlesen. Es wird aus dieser Sicht nicht mehr viel Erfreuliches kommen… |
Gegen den (drohenden) Ball
Nach den Problemen im defensiven Umschalten bzw. mit einer adäquaten Absicherung der eigenen Offensivbemühungen im Heimspiel gegen den Hamburger SV beorderte Tayfun Korkut in Paderborn Gülselam erstmals in die Startelf. Alleine im Zeitpunkt dieses Debüts lässt sich bereits ein Hinweis auf Gülselams Rolle im mannschaftlichen Konstrukt erkennen. Dieser bestätigt sich auch in seiner Positionierung und seinen situativen Stellungen in nahezu allen folgenden Spielen: Gülselam sichert ab. Dabei tut er dies vornehmlich durch eine simple, aber aufmerksam ausgeführte tiefere und vor allem nahezu immer zentrale Position. Diese besetzt er vor allem dann, wenn seine Mannschaft im Ballbesitz bzw. im Angriff ist. Er hält dabei oft einen engen Kontakt zu den beiden Innenverteidigern hinter ihm und vollzieht die Bewegungen seiner offensiveren Mitspieler – wie etwa das seit Gülselam neben ihm spielt noch stärker ausgeprägte Aufschieben auf den (rechten) Flügel durch Schmiedebach – nur selten und eher wenig intensiv nach. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass er „in der Mitte rumsteht“ und einen möglichen (schnellen) Angriff des Gegners auf sich zukommen lässt. Er nutzt viel mehr den etwas vergrößerten Abstand zum Spielgeschehen dazu, eine möglichst gute Übersicht über das Spiel zu erhalten, um die möglicherweise aufkommenden Angriffsdynamiken frühzeitig wahrnehmen zu können und entsprechend zu reagieren.
Durchschnittliche Einflussbereiche der Spieler gegen Hoffenheim. Gülselam in der Mitte vor der Innenverteidigung. Quelle: Fourfourtwo |
Schematische Staffelung bei Ballbesitz im zweiten Drittel. Gülselam geht nicht zu intensiv mit. |
Bestätigende Szene aus dem Spiel gegen Hoffenheim (führt übrigens zum Ausgleichstreffer). |
Natürlich wäre die eigentlich immer zentrale und meistens auch etwas tiefere Position Gülselams an sich noch kein besonders erwähnenswertes oder auch lobenswertes Merkmal seines Spiels. Sich in die Mitte hinstellen und warten kann jeder. Doch wie bereits angedeutet nutzt Gülselam diese Position, die in der Form bisher kein anderer Sechser im Kader von Hannover 96 konstant besetzen wollte/konnte, als Vorbereitung für seine eigentliche Kernaufgabe im aktuellen Spielsystem. Mit der so ermöglichten vollen Übersicht über die Situation kann er einschätzen, wann und wie er Zugriff auf den gegnerischen Ballführenden ausüben muss und mit welcher Intensität er aus seiner Stellung herausschiebt. Sein Absichern erfolgt also in der Regel nicht durch Passivität und einen Fokus auf die robuste Endverteidigung (wäre auch nicht nötig, dafür sind vor allem Marcelo und auch Schulz da), sondern könnte vielleicht am ehesten als proaktives Absichern charakterisiert werden (zumindest in den nicht wenigen Szenen, in denen er damit sehr erfolgreich und effektiv ist). Dennoch gewährleistet er durch seine zunächst beobachtende Positionierung eine konstant gute Raumabdeckung in der gefährlichen Zone vor der zentralen Abwehr und verlässt diese niemals leichtsinnig oder überstürzt (wozu beispielsweise Leon Andreasen eher neigt). So verleiht er seiner Mannschaft doppelte Stabilität: einerseits sorgt er für ein kompaktes Zentrum vor dem Tor (eine nicht gerade torungefährliche Zone), zum anderen bremst er aufkeimende Umschaltversuche der gegnerischen Mannschaft sehr oft durch sein antizipatives Herausschieben aus. Seine Vordermänner besitzen so etwas mehr Freiheiten in der vertikalen Bewegung, was aber natürlich nicht bedeutet, dass sie sich um das defensive Umschalten im Falle eines Ballverlustes nicht zu kümmern brauchen. Gülselam ist in vielen Szenen einfach „nur“ der robuste Spieler, der das gegenpressinghafte Verhalten der ballnahen 96-Akteure maßgeblich einleitet. Wesentliche Voraussetzung für eine solche Spielweise ist – was ich bereits in den betreffenden Abschnitten zu den Partien geschrieben habe, in denen ich ihn als taktisch besten Spieler empfand – eine ordentliche Spielintelligenz, gutes taktisches Verständnis, eine gute Raumorientierung sowie vor allem ein ausgeprägtes Antizipationsvermögen. Drohende Ballverluste seiner Mitspieler erkennt er früh, schätzt aus seiner günstigen Position die möglichen Optionen des Gegners ein und entscheidet dann, auf welche Art (und ob überhaupt) er den gegnerischen Spieler attackieren muss, indem er relativ intensiv aus seiner Position vor der Abwehr herausrückt.
[youtube http://www.youtube.com/watch?v=J3inle6PHbw#t=0m50s]Diese dargestellte Art des Verteidigens beschränkt sich bei Gülselam jedoch nicht nur auf das Absichern der eigenen Mitspieler in der Ballzirkulation. Auch im „klassischen“ Spiel gegen den Ball kann er immer wieder die genannten Qualitäten zum Wohl seiner Mannschaft einbringen. Bringt der Gegner den Ball aus einer ruhigeren Spielanlage heraus in Richtung des 96-Tores, ordnet sich Gülselam wie jeder andere Spieler auch in die defensive Grundordnung ein. Nur recht selten sieht man ihn auch in solchen Situationen etwas tiefer als seinen Partner auf der Doppelsechs positioniert, sodass er die Linie mit dem Mittelfeld im 4-4-1-1-Pressing Hannovers hält. Setzen seine Mitspieler den Gegner auf den Flügeln unter Druck, orientiert er sich zwar ebenfalls auf die jeweilige Seite, presst aber nicht mit derselben Intensität wie sie es tun. Auch in diesen Situationen gilt: Gülselam sichert ab. Auf diese Weise stabilisiert er das mannschaftliche Konstrukt für den Fall, dass sich der Gegner aus dem hannoverschen Druck befreien kann und die Seite verlagert. In der Folge ist er selber zusammen mit dem zuvor ballfernen Flügelspieler nun schneller in der Lage, den gleichen Druck auszuüben wie kurz davor auf der anderen Seite. Statistisch wirkt sich diese grundsätzlich zentrums- und raumorientierte Spielweise unter anderem darauf aus, dass Gülselam oft signifikant weniger Sprints aufweist, als etwa sein Nebenmann Schmiedebach. Die teilweise geringe Anzahl von Sprints deutet keineswegs darauf hin, Gülselam wäre in irgendeiner Form laufschwach oder schlicht zu langsam, um überhaupt Situationen mit einem Sprint aufklären zu können, sondern ist vielmehr eine Folge seiner Spielweise. Wenn Gülselam zu intensiven Läufen oder Sprints ansetzt, sind sie oftmals darauf gerichtet, seine auf dem Flügel pressenden Mitspieler zu unterstützen und mit ihnen den Ballgewinn zu forcieren. Ähnlich wie Manuel Schmiedebach zeigt sich auch Gülselam engagiert beim Schaffen von Überzahlsituationen auf den Flügeln, seine diagonalen Herausrück-Aktionen sind jedoch dosierter und richten sich in der Regel danach, ob die Gelegenheit es erfordert (weil seine Hauptabsicht nach wie vor das Absichern ist) oder als vielversprechend erscheint. Sowohl gegen Leverkusen, als auch gegen Wolfsburg gab es beispielsweise Szenen, in denen er mit einem frühzeitig angesetzten Lauf auf den linken Flügel den gegnerischen Ballbesitz beenden konnte, nachdem jeweils zwei Mitspieler den Gegner dort ausgebremst und nahezu isoliert hatten. Es gab beide Male sogar kurzen Szenenapplaus, was relativ ungewöhnlich ist wenn man bedenkt, um welchen Spieler es sich handelt.
Befindet sich Gülselam in einer der wie beschrieben entstandenen Zweikampfsituation, kommen weitere hervorzuhebende Eigenschaften zum Tragen. Gülselam ist, wie dem ein oder anderen möglicherweise schon aufgefallen ist, sehr groß und kräftig gebaut. Dementsprechend robust führt er seine Zweikämpfe, seine direkte Art in den Duellen unterscheidet sich jedoch etwas von der wie man sie etwa von Marcelo kennt. Gülselam ist gewissermaßen ein sehr oberkörperbetonter Zweikämpfer, er verlagert seinen Körperschwerpunkt in Zweikämpfen oft relativ (für seine Größe) weit nach unten (daher auch relativ gesehen weniger Fouls mit den Füßen). Dabei ist bei ihm oft eine sehr breite Fußstellung zu sehen, mit der er seinem Gegenüber im Bodenduell einiges an Optionen nimmt. Der türkische Sechser kann so einen sehr großen Deckungsschatten hinter sich aufspannen, was natürlich zum einen an seinen körperlichen Ausmaßen liegt, zum anderen aber auch an seiner sehr bewussten und durchaus aggressiven, aber nicht überhasteten Körperhaltung im Zweikampf. So kann er, wenn es die Situation erfordert, einen Zweikampf gewinnen und das Spiel vom eigenen Tor weghalten, ohne das Risiko einzugehen, ausgespielt und überlaufen zu werden. Das bewusste Lenken des Gegners in eine bestimmte Spielfeldzone (bzw. das Fernhalten von einer bestimmten Zone) durch die Art der Zweikampfführung ist bei Gülselam etwas stärker ausgeprägt als bei den meisten seiner Mitspieler und entfaltet sich wegen seiner körperlichen Vorzüge auch effektiver.
Seine Größe bringt ihm natürlich in Kopfballduellen einen Vorteil gegenüber den meisten Gegenspielern, sodass er in dieser Rubrik absolut hervorsticht. Er gehört zu den kopfballstärksten Akteuren im Kader Hannovers und kann diesen Vorteil eben auf Grund seiner oft an den beiden Innenverteidigern orientierten Spielweise sehr gut für die Mannschaft einbringen (nicht nur bei Standards). Seine physisch starke Spielführung wirkt sich wie bereits erwähnt positiv für die Mannschaft aus, indem er dadurch viele Zweikämpfe gewinnt und sich für einige Balleroberungen verantwortlich zeichnet.
Gülselams Bilanz in direkten Duellen. Die Werte weisen Abweichungen von anderen Datenanbietern auf, was wahrscheinlich an unterschiedlichen Definitionen liegt. Bundesliga.de gibt Gülselam mit rund 52% gewonnenen Zweikämpfen an. Im Bereich der Tackles ist Gülselam der derzeit beste 96-Spieler. Und wer sogar Kopfballduelle gegen Marcelo gewinnt, ist wohl auch relativ kopfballstark. Quelle: Squawka |
Die große Robustheit seiner Spielweise wirkt sich auch in weniger statischen Situationen im Spiel gegen den Ball aus. Man hat es ebenfalls schon gesehen, dass er wie üblich aus seiner Position herausstößt, um den im geordneten Spielaufbau befindlichen Spieler relativ individuell unter Druck zu setzen. Wie beispielsweise im Spiel gegen Hoffenheim gesehen verfolgt er mit diesem Fake-Pressing auch den Ball im weiteren Verlauf des Angriffsversuchs relativ weiträumig. Das ist auch je nach Situation gar nicht mal unklug, da er einmal in Bewegung sowieso nur schwerlich abbremsen kann. Wie für Spieler seines Ausmaßes üblich hat er Defizite in der Antrittsschnelligkeit (und leicht auch in der Tempostärke generell). Wenn der Zug aber erst einmal ins Rollen geraten ist, entwickelt er eine gehörige Wucht (was wiederum auch schon zu foulartigen Szenen führte). Diese Beschreibung deutet bereits auf einen weiteren Aspekt seiner individuellen Arbeit gegen den Ball hin. Durch die manchmal zu beobachtende Vehemenz seiner Zweikampfführung werden einige Duelle zu seinen Ungunsten als Foul gewertet, vor allem wenn der Zweikampf im Anschluss an einen längeren intensiven Lauf seinerseits folgt. Ein ebenfalls wichtiges Merkmal seines Defensivspiels besteht auch in taktischen Fouls. Gemessen an der Gesamtzahl kommt er dabei mit drei Verwarnungen (darunter eine gelb-rote Karte, also nur in zwei Spielen Karten gesammelt) noch relativ gut weg, ob dieser Zusammenhang eher auf eine clevere Ausführung der taktischen Fouls durch den Spieler oder die zu inkonsequente Linie der Schiedsrichter zurückzuführen ist, müsste man im Einzelfall beleuchten.
Vielleicht doch eher clever? Quelle: Squawka |
Schwächen, Fehler, angebliche Fehler, angebliche Schwächen
All die dargestellten Qualitäten Gülselams in Sachen Absicherung und Spiel gegen den Ball sind oft nicht besonders auffällig und wirken teilweise weniger bedeutsam, als sie im Endeffekt sind. Was hingegen im Gedächtnis bleibt, sind die wenigen Szenen, in denen er seine Prioritäten minimal zu extrem verfolgt und seine Entscheidungsfindung ohne Ball zu abwartend und auf scheinbare Sicherheit fokussiert ist. Sowohl in der Entstehung des 0:1 im Heimspiel gegen Bayer Leverkusen, als auch mit Abstrichen beim 3:1 bei der TSG Hoffenheim entschied er sich jeweils einen kleinen Augenblick zu spät, eher er sich aus seiner zentralen Position vor der Innenverteidigung löste. In der Folge konnte der nachstoßende Castro mit dem Ball am Fuß in den Strafraum eindringen und auf den Torschützen Kießling quer legen und Eugen Polanski, den Lars Stindl nicht richtig stellen konnte, traf mit einem Distanzschuss, den Gülselam um Haaresbreite nicht mehr blocken konnte. In beiden Fällen verfolgte Gülselam zuvor seinen üblichen und sinnvollen Plan, zog ihn aber nicht konsequent genug durch. Dass in der Folge jeweils Gegentore fielen ist einerseits der Grund dafür, dass diese Fehler im Gedächtnis bleiben (während das bei den deutlich in der Überzahl vorhandenen gelungenen Aktionen eher nicht der Fall ist). Andererseits deutet es auch zumindest an, dass Gülselams Qualitäten für die mannschaftliche Stabilität nicht so austauschbar zu sein scheinen, wie gerade in letzter Zeit gerne behauptet wird. Zudem wird zu häufig dem Irrglauben nachgelaufen, Gegentore seien meistens auf individuelle Fehler einiger weniger Spieler zurückzuführen. In einer derart komplexen Mannschaftssportart wie Fußball sollte eigentlich keine große Argumentation dafür notwendig sein, warum das nicht der Fall ist. Ein Blick auf die Entstehung des besagten Leverkusener Treffers verdeutlicht dies.
Die beschriebenen Szenen sind allerdings keineswegs in die Kategorie „Schwäche“ einzusortieren. Wenn ein Spieler das, was ihn grundsätzlich auszeichnet, in einer (wenn auch folgenschweren) Situation nicht ausspielen kann, ist es eben ein Fehler, wie er in jedem Spiel bei jedem Spieler mehrfach vorkommt. Schwächen im eigentlichen Sinn sind natürlich auch bei Ceyhun Gülselam auszumachen. Sie stellen sich teilweise jedoch anders dar als aktuell in verschiedenen Formen geäußert.
Gülselam ist ein technisch extrem limitierter Spieler
Wie schafft es ein „technisch extrem limitierter Spieler“ durch die Jugendabteilung von Bayern München über die erste türkische Liga mit Einsätzen in der Champions League bis in die Bundesliga? Der müsste ja ansonsten extrem gut sein, damit zahlreiche nicht gerade inkompetente Trainer in den sauren Apfel beißen und seine angeblich gravierenden technischen Mängel hinnehmen. Sicherlich rührt dieser Eindruck nicht gerade unwesentlich von seiner äußeren Erscheinung und seinen Bewegungen her. Ein derart großer und massiver Spieler wie Gülselam wirkt nun mal nur selten geschmeidig und elegant. Seine Bewegungen sind sehr druckvoll und bei weitem nicht filigran. Was ihm im Zweikampf und im Pressing eindeutig zu Gute kommt, stellt logischerweise in engen Situationen mit dem Ball und vor allem bei eingeschränktem Sichtfeld ein paar Hindernisse dar. Wendige Drehungen mit dem Ball am Fuß oder schnelle Richtungswechsel sind natürlich bei Gülselam nicht zu sehen, was dann gerne als „hüftsteif“ oder „hölzern“ bezeichnet wird. Trotzdem konnte Gülselam beispielsweise im Spiel gegen Hoffenheim zwei Dribblings gegen jeweils mehrere Gegenspieler gewinnen. Die Kritik an Gülselams technischen Fähigkeiten rührt hauptsächlich von seinem angeblich unterdurchschnittlichen Passspiel her. Doch es genügt ein Blick auf die Statistik um zu erkennen, dass davon keine Rede sein kann. Mit im Mittel 74% gelungenen Pässen liegt er im für einen defensiven Mittelfeldspieler akzeptablen Bereich und ist in dieser Hinsicht mit dem deutlich weniger kritisierten Manuel Schmiedebach auf Augenhöhe. Natürlich wäre ein höherer Wert wünschenswert und sollte auch definitiv angestrebt werden (knapp über 80% wäre eine für mich persönlich zufriedenstellende Marke). Aber jeder Pass braucht auch einen Empfänger, also hängt auch diese Statistik immer zum Teil von der strategischen Ausrichtung der Mannschaft ab. Dass Xabi Alonso eine höhere Passquote aufweist, ist nicht nur eine Folge seiner deutlich höheren individuellen Qualität, sondern hängt natürlich auch mit den Bewegungen seines Umfeldes zusammen. Wie auch immer: ähnlich wie Gülselam den drohenden Ballverlust antizipiere jetzt auch ich eine darauf mögliche folgende Antwort.
Statistiken kann man drehen wie man will. Gülselam spielt ja auch nur zurück und Sicherheitspässe.
Nein, tut er nicht.
(zum Vergrößern anklicken). Quelle: Squawka |
Und nein, tut er nicht (Spiel gegen Wolfsburg, das war ja sogar eines seiner weniger guten). Quelle: Fourfourtwo |
[Vorweg: Ich will gar nicht Gülselam und Schmiedebach gegeneinander ausspielen oder Schmiedebachs Leistung schmälern (man muss Spieler ja auch loben können, ohne andere Spieler kritisieren zu müssen und andersrum), aber angesichts der zumindest nominell gleichen Position und der hohen Spielanteile bietet es sich einfach an. Die Werte von Hirsch, Sané, Hoffmann oder Andreasen zu nehmen wäre teilweise nicht möglich (weil es keine gibt) und teilweise nicht aussagekräftig wegen zu geringer Spielanteile. Spieler von anderen Vereinen zum Vergleich heranzuziehen mache ich prinzipiell nicht, weil die Interpretation von Statistiken losgelöst vom taktischen/strategischen Kontext in meinen Augen einfach sinnlos ist (siehe Xabi Alonso).]
Wie spielt Gülselam seine (Fehl-)Pässe? Quelle: Squawka |
Zum Vergleich: Wie spielt Manu Schmiedebach seine (Fehl-)Pässe? Quelle: Squawka |
Stattdessen ist der Zusammenhang ein viel aussagekräftigerer: Mehr als die Hälfte seiner Fehlpässe ist auf eben genau die riskanteren, langen Pässe sowie auf „Pässe mit dem Kopf“ zurückzuführen, die beide naturgemäß und bei (fast) jedem für Hannover 96 erschwinglichen Spieler eine höhere Fehleranfälligkeit aufweisen. Zu Pässen mit dem Kopf zählen auch solche Szenen, in denen Gülselam ein Kopfballduell gewinnt, der Ball danach aber bei einem Gegenspieler landet (daher auch Schmiedebachs absolut gesehen niedrigere Werte in der Kategorie „Pässe mit dem Kopf“: wenig überraschend führt/gewinnt Schmiedebach einfach weniger Kopfballduelle). Dass er nicht jeden seiner geklärten Kopfbälle auch planvoll zum eigenen Mann befördert, kann man ihm nicht ernsthaft vorwerfen. Dass lange Bälle – die bei ihm zudem im Schnitt ein paar Meter länger sind als die langen Bälle, die etwa Schmiedebach spielt – auch nicht immer ankommen, sollte wenig Anlass zur Kritik geben. Zudem ist die behauptete Zusammenhang von Fehlpass und „technische Schwäche“ in vielen Szenen natürlich nicht zutreffend. Einige Szenen, die beim Publikum für sehr lautstarke Unmutsbekundungen führten, sind eher auf Abstimmungsprobleme zurückzuführen, bei der die „Schuld“ am negativen Ausgang weder ausschließlich dem einen, noch dem anderen Spieler zugeordnet werden kann – was hinterher in Sachen Gülselam trotzdem gemacht wird. In der Schlussphase der Partie gegen Köln beispielsweise eroberte Gülselam nach bekanntem Schema (übrigens eine sehr, sehr schöne Szene, die ich leider nicht grafisch darstellen kann, weil ich keine Screenshots davon gespeichert habe) einen Ball und wollte ihn zu Kenan Karaman wenige Meter von ihm entfernt an der Seitenlinie befördern. Karaman jedoch startete den Weg nach vorne, der Ball trudelte ins Seitenaus. Weder Fehler Gülselam, noch Fehler Karaman, einfach mangelnde Abstimmung. Das gleiche gilt für einen im letzten Heimspiel gegen Wolfsburg zu sehenden langen Pass in die Spitze, der die zweite scheinbar unglückliche Szene Gülselams in einer frühen Phase des Spiels bildete, die vom Publikum sehr negativ bewertet wurde. Nach einem Freistoß war Wolfsburg relativ weit aufgerückt, Joselu zeigte zunächst den Weg in die Tiefe hinter die Wolfsburger Hintermannschaft an, Gülselam spielte den langen Ball, im gleichen Moment brach dann aber Joselu den Weg wieder ab. Der lange Ball ging natürlich ins Nichts und landete bei Benaglio. Joselu zeigte Gülselam einen erhobenen Daumen, die Zuschauer pfiffen. Einige Minuten später missglückte ein langer Seitenwechsel von Gülselam auf Sakai und ging ins Seitenaus. In dem Fall war zwar weniger die schlechte Abstimmung zu beklagen, sondern tatsächlich eine Ungenauigkeit Gülselams. Aber der Ball ging ins Seitenaus – sieht man häufiger. Eine solche Auflistung von Ballverlusten in Folge langer Bälle oder eine Einzelfallbetrachtung von Fehlpässen ist ebenso sinnlos wie uninteressant. Aber später wird deutlich, warum es dennoch Teil des derzeitigen Konflikts um Gülselam ist.
96 fehlt ein spielstarker Sechser und dann kommt dieser Gülselam.
96 fehlt angeblich schon seit Jahren ein spielstarker Sechser. Auch die Hoffnung Mirko Slomkas, mit Stindl im defensiven Mittelfeld wäre dieser Mangel zu beheben, hat sich im Rückblick als nicht zu erfüllen herausgestellt (wobei ich dem Ganzen noch eine Chance geben würde). Das Gemeine: diese spielstarken Sechser, die aber natürlich trotzdem defensiv hervorragend sein sollen, verstecken sich ganz arglistig im Hochpreissegment des Spielermarktes und bei den europäischen Topvereinen (und in Mainz und Augsburg). Gülselam verfügt tatsächlich nicht über die Anlagen, diese von Journalisten und Fans seit langem propagierte Baustelle in der Kaderplanung zu füllen. Zwar kippte er in der früheren Phase der Saison arbeitsteilig mit Manuel Schmiedebach oder Leon Andreasen gelegentlich im Spielaufbau zwischen die beiden Innenverteidiger ab. Jedoch kommt es darauf an, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise er dies tut. Lässt er sich frühzeitig fallen (gegen einen Gegner, der nicht intensiv und hoch presst) und hat das Spiel vor sich, spielt er zwar keine kreativen Pässe (wie auch jeder andere Sechser im Kader von 96). Aber in der Ausrichtung Lars Stindls mit seinen ballfordernden Läufen aus der Spitze im Spielaufbau lässt sich vermutlich bereits ein Hinweis darauf erkennen, dass Korkut dieses Hindernis mit anderen Maßnahmen zu umgehen versucht (durchaus erfolgreich). Es spricht wenig dafür, dass Gülselam verpflichtet wurde, um neue Impulse in Sachen Kreativität im Sechserraum zu setzen. Problematisch sind in Sachen Spielaufbau jedoch die Situationen, in denen Gülselam mit eingeschränktem Sichtfeld oder sogar mit dem Rücken zum gegnerischen Tor ins Spiel einzubinden versucht wird. In solchen Situationen kommt sein oben bereits angesprochenes Defizit in der Wendigkeit und der Ballkontrolle auf engem Raum zum Vorschein. Seine tatsächlich gelegentlich zu beobachtende technische Schwäche besteht darin, unter Druck beim ersten Ballkontakt anfällig für Unsauberkeiten zu sein. In solchen Szenen verspringt ihm der Ball bei der Annahme, was es gerade gegen das Zentrum verstellende Gegner potentiell gefährlich macht, ihn derart einzubinden. Kann er seine koordinativen Nachteile (langer Weg vom Fuß bis zum Kopf) mit dem Spiel vor ihm noch gut verdecken, gelingt ihm das unter Druck von hinten nicht. Doch wenn diese Schwäche in seinem Spiel bekannt ist (und dass er im Saisonverlauf immer seltener in solche Szenen gebracht wird deutet darauf hin), ist es einigermaßen einfach, die Aufbaustrukturen daran anzupassen. Gülselam ist auf jeden Fall kein besonders pressingresistenter Spieler, wie es auf der Sechs eigentlich wünschenswert wäre. Doch wenn man es vermeiden kann, ihn in für ihn solch problematische Situationen zu bringen, fällt dieser Makel wohl nicht allzu sehr ins Gewicht. Wie bei jedem anderen Spieler gilt auch hier: Die Einbindung eines Spielers an seinen Stärken und Schwächen möglichst passend vornehmen und man bekommt eigentlich wenige Probleme (mit Kiyotake klappt es beispielsweise ja auch immer besser).
Szene aus dem Zweitrundenspiel im DFB-Pokal in Aalen. Der Ball kommt auf Gülselam, der mit dem Gesicht zum Tor unter Druck gesetzt wird. Der Ball springt ihm bei der Annahme etwa zwei Meter vom Fuß, Felipe muss mit einem Foul den Aalener Durchbruch verhindern. |
Diese Statistiken sind ja schön, aber die sagen nicht alles aus. Gülselam verliert oft die wichtigen Zweikämpfe und spielt entscheidende Fehlpässe, das hat schon oft zu Gegentoren geführt.
Nothing to show here. |
Und mal grundsätzlicher: Was ist ein wichtiger Zweikampf? Beziehungsweise korrekt müsste die Frage lauten: Was macht den einen Zweikampf wichtiger als einen anderen? Die Bedeutung eines spezifischen Zweikampfs lässt sich in der Regel analog zu dem Geschwafel von „unhaltbaren“ Bällen für Torhüter ohnehin erst hinterher (und meistens nur, wenn es zu einem Gegentor führte) feststellen. Ein Zweikampf, der einen Konter weit vom eigenen Tor entfernt unterbricht, ist ja nicht per se weniger wichtig, nur weil er eine weniger akute Gefahr zu unterbinden scheint. Spieler verlieren ständig Zweikämpfe (etwa 50 Prozent). Warum sollte man Gegentore oft auf isoliert betrachtete Fehler einzelner Spieler zurückführen können (siehe z. B. Leverkusen-Szene oben; aber gilt unabhängig davon, um welchen Spieler es geht)? Aber dazu kann es natürlich andere Meinungen geben.
Warum so harte Kritik? Ein paar Vermutungen
Ceyhun Gülselam hatte einen schwierigen Start bei 96. Relativ überraschend wurde er nach einem erfolgreichen Saisonstart gegen Paderborn zum ersten Mal in die Startelf berufen und ersetzte den (zurecht) äußerst beliebten und etwas spektakuläreren Leon Andreasen im defensiven Mittelfeld. Das Spiel ging verloren, Korkuts Maßnahme wurde gleich hinterfragt. Im folgenden Spiel gegen Köln stand Gülselam wieder in der Startelf (Schmiedebach war angeschlagen), trotz des Heimsieges gab es hinterher relativ starke Kritik an der defensiven Spielweise Hannovers. Im nächsten Auswärtsspiel in Stuttgart brachte Korkut sowohl Gülselam, als auch Schmiedebach und Andreasen. 96 zeigte eine der besten defensivtaktischen Leistungen der jüngeren Vergangenheit, verlor in der Offensive ersatzgeschwächt und mit bereits bekannten Problemen aber nach einem Standard-Gegentor mit 0:1. Hinterher war in einer überregionalen Tageszeitung von Angsthasenfußball und angeblich drei Sechsern auf dem Platz die Rede (beides… umstritten).
„Die Defensive hat mich schon immer interessiert, weil sie Arbeit und Weiterentwicklung erfordert. Die Offensive basiert eher auf angeborenem Talent. Deswegen arbeite ich so oft an der Organisation und den Bewegungsabläufen der Abwehr. […] Die Mannschaft, die das vernachlässigt, ist verloren.“ [1]
„Das ist fundamental. Für mich ist die Defensive das Wichtigste überhaupt.“ [2]
Sagt ein Trainer, der im Moment in seiner zweiten Saison in der Bundesliga arbeitet.
Naja, vielleicht ist er ja noch ein bisschen unerfahren. Der Korkut lernt schon noch dazu.
-Das hat aber Pep Guardiola gesagt.
Oh.
All das wurde nicht explizit mit Gülselam in Verbindung gebracht, aber trotz der öffentlichen Kritik an der auf defensive Stabilität ausgerichteten Spielweise blieb Korkut dieser Linie treu, Gülselam stand weiter jedes Mal in der Startelf (dass es da möglicherweise einen Zusammenhang geben könnte, wollte/will der ein oder andere wohl nicht sehen). Gegen Frankfurt saß Gülselam nach seiner gelb-roten Karte auf der Tribüne. Maurice Hirsch feierte ein ordentliches Debüt neben Manuel Schmiedebach, offenbarte aber im Spiel gegen den Ball ein paar Defizite und setzte zu ein paar riskanten, aber natürlich etwas spektakuläreren Dribblings und Pässen an, die nicht alle erfolgreich waren. Der junge Hirsch zeigte angesichts des Umstandes, dass er seine Startelfpremiere feierte, ein gutes Debüt, 96 besiegte Frankfurt mit 2:0. Korkut beförderte Gülselam im nächsten Spiel trotzdem wieder in die Startelf und das Rumoren begann von neuem. Gülselam wurde noch kritischer und vielleicht auch etwas „genauer“ begutachtet als zuvor. An dieser Stelle schlägt sich dann die unglückliche Kombination seiner Spielweise mit der natürlichen Dominanz negativer Ereignisse im menschlichen Gedächtnis nieder. Gülselam macht viele Sachen richtig und verglichen damit wenige Sachen falsch – wie viele andere Spieler in der Bundesliga auch. Gülselam und zahlreiche andere Sechser eint jedoch das Schicksal, dass viele der guten und wichtigen Aktionen eher unscheinbar sind oder man lediglich die Endphase der Aktion bewusst wahrnimmt, diese dann aber für selbstverständlich hält. Die Fehler, die man bei jedem Spieler sieht, fallen bei ihm/ihnen aber gewissermaßen stärker ins Gewicht, wenn ihnen scheinbar kaum Positives gegenübersteht. Der negativity bias, also die wissenschaftlich erwiesene Tendenz des Menschen zur Überbewertung weniger negativer Wahrnehmungen gegenüber der Mehrheit der positiven Ereignisse [3], trifft Gülselam und andere Spieler dann besonders hart, wenn den (teilweise sogar banalen und größtenteils nicht mal besonders folgenschweren) Fehlern kaum bewusst vernommene Stärken oder gute Aktionen gegenüberstehen. Dass vor der Saison ein „spielstarker Sechser“ (was auch immer jeder einzelne sich darunter vorstellt) herbeigesehnt wurde und dann der technisch zwar nicht „extrem limitierte“, aber auch nicht filigrane Gülselam auf dem Platz steht, verstärkt diesen bias noch, da der Abstand zwischen dem Gesehenen und den (wie so häufig in Hannover überzogenen) Erwartungen gefühlt immer größer wird. Aber Gülselam spielt immer weiter. Eine der noch harmloseren Reaktionen darauf:
„Ceyhun Gülselam ist bislang den Beweis schuldig geblieben, eine Verstärkung für 96 zu sein. Er ist zu langsam, foult zu oft, und spielerisch ist das auch keine Offenbarung, was er bislang gezeigt hat.“ [Quelle]
Korkut scheint in Gülselam trotzdem Eigenschaften und Vorzüge zu sehen, die es rechtfertigen, ihn trotz der üblichen Fehlpässe oder der inkonsequenten Positionierung vor den beiden oben dargestellten Gegentoren weiterhin aufzustellen (meinetwegen auch trotz seiner Wanderdünenhaftigkeit, seiner überharten Spielweise und seiner extremen technischen Limitierung…). In der Kommentarhölle im Internet liest man dazu vereinzelt die Meinung, es wäre der Landsmann-Bonus im Spiel. Ein bisschen naheliegender ist vielleicht einfach die Annahme, dass Gülselams Spiel in der Bilanz eben weit weniger fehlerbehaftet ist, als es der ein oder andere (professionell schreibende) Fan wahrnimmt und dass Gülselam mit seiner absichernden, taktisch disziplinierten Spielweise nicht allzu weit von Korkuts Vorstellungen entfernt sein kann. Leider kennen wir seine Vorgaben nicht, aber es lässt sich trotzdem ein Muster erkennen, wenn ein Spieler immer wieder spielt und die Unzufriedenheit des Trainers mit ihm offenbar nicht extrem groß ist.
Dass Gülselam im Ballbesitzspiel für die Offensive nicht immer besonders viel tut, ist richtig. Aber schon im oben angezeigten Video lassen sich Hinweise darauf erkennen, dass er bereits in Istanbul aus einer eher tiefen Position kommend mit seinem strammen Schuss aus der Distanz für offensive Gefahr sorgen könnte. Diese Stärke des (ehemaligen, eventuell bald wieder) türkischen Nationalspielers kam bisher bei 96 nur in wenigen Szenen und eher unsystematisch zum Vorschein (wobei sich dort die Frage stellt, ob er jetzt in Istanbul besser oder schlechter eingebunden war; das zu beurteilen ist wohl noch zu früh). Dass sein letzter Auftritt gegen Wolfsburg phasenweise unglücklich war und er seine Stärken nicht wie bisher einbringen konnte, ist relativ unstrittig. Aber interessant ist vielleicht auch diese Anmerkung:
Gülselams Beteiligung bzw. Einfluss auf die verschiedenen Spielphasen in dieser Saison. Ich werde aus dem Performance Score nicht ganz schlau (teilweise zu extrem überraschende Werte), aber als Annäherung ist er allemal zu gebrauchen. Quelle: Squawka |
In den letzten drei Begegnungen stieg Gülselams quantitative Aktivität in der Offensive signifikant an. In den letzten drei Begegnungen kassierte 96 ungewöhnlich viele Gegentore. Natürlich bin ich weit davon entfernt, darin den einzigen und alles entscheidenden Faktor zu sehen, zumal 96 auf drei sehr gute Gegner traf. Aber es ist dennoch ein Hinweis, dem man im weiteren Saisonverlauf nachgehen sollte.
Schlussbemerkungen
Man könnte noch einiges mehr zu der ganzen Thematik zu sagen, darunter auch so grundsätzliches wie die generelle Überbewertung einzelner Szenen, egal ob guter oder schlechter, in der Bewertung von Spielen und Spielern. Doch das würde den Rahmen sprengen.
Wenn er hier so viel gelobt wird: Ist Ceyhun Gülselam der beste Spieler bei 96? – Nein.
Ist Gülselam der mit Abstand schlechteste Sechser bei 96? – Nein.
Ist Gülselam der langersehnte „spielstarke Sechser“? – Nein, das soll er auch nicht sein.
Ist Gülselam zu absolut nichts zu gebrauchen und hat bisher enttäuscht? – Nein und nach meiner Ansicht nein.
Kann 96 ohne Gülselam keinen gut abgesicherten Fußball spielen? – Derzeit sieht Korkut das wohl im Ansatz so. Es gäbe schon mögliche Anpassungen, zu Saisonbeginn schlug sich die teilweise schlechte Balance auch nicht negativ in den Ergebnissen nieder.
Wird Gülselam also weiterhin jedes Spiel von Anfang an machen? Wohl kaum. Bei der Pressekonferenz vor dem Saisonbeginn sprach Korkut davon, mit Gülselam eine weitere Alternative fürs defensive Mittelfeld dazugewonnen zu haben und dass er eine Rolle einnehmen könne, die kein anderer Spieler im Kader derart ausfüllen kann. Das bestätigt sich bisher und daher hat Ceyhun Gülselam nicht nur eine Berechtigung im Kader, sondern in einigen Spielen auch eine absolut wichtige Aufgabe auf dem Platz zu erfüllen. Je nach Form und je nach den Details der Spielanlage kann Korkut auch andere Spieler auf der Sechs einsetzen, mit Salif Sané verfügt der Trainer mittlerweile über eine interessante (wenn auch uns in dieser Rolle eher unbekannte) Alternative mehr. Ob der junge Franzose nach knapp einem Monat im Mannschaftstraining, an dem er fast ein halbes Jahr nicht teilnehmen durfte, bereits für das kommende Auswärtsspiel gegen Bremen eine Startelf-Alternative ist und ob er taktisch gesehen eine gute Wahl darstellt, kann niemand besser beurteilen als Tayfun Korkut. Wenn er aber wieder Gülselam aufstellt, hat das Gründe. Aus meiner Sicht sehr gute Gründe. Applaus bei seiner Auswechslung war, ist und wäre aus meiner Sicht meistens vollkommen berechtigt. Nicht nur von den eigenen Mitspielern.
Quellenangaben
[1] Perarnau, Martí (2014): Herr Guardiola. Das erste Jahr mit Bayern München, München: Kunstmann, S. 116.
[2] Perarnau, Martí (2014): Herr Guardiola. Das erste Jahr mit Bayern München. München: Kunstmann, S. 111.
[3] Soroka, Stuart N. (2014): Negativity in Democratic Politics: Causes and Consequences, Cambridge: Cambridge University Press.
Danke an Jörg Seidel für die Goalimpact-Grafik!
Sehr interessanter, aufschlussreicher absolut lesenswerter Beitrag! Jetzt ist mir seine Ausrichtung und Anlage besser bewusst. Das mit dem Negativity bias scheint auch durchaus plausibel, den Eindruck hatte ich auch, konnte es aber nicht so gut in Worte fassen.
Das Video ist auch interessant und macht Lust auf mehr.
Danke dafür! Sehr wichtiger Beitrag!! Sollte jeder Kritiker UND Nichtkritiker lesen!