Nachdem die lange Sieglosserie gerade noch rechtzeitig gebrochen und der Abstieg am letzten Spieltag der Vorsaison mit einer Energieleistung abgewendet werden konnte, startet 96 mit seinem „Retter“ als Cheftrainer in die neue Spielzeit. Die Transferbemühungen sorgen für weit verbreitetes Stirnrunzeln. Hauptsächlich junge Spieler mit wenig Strahlkraft, teils aus unterklassigen Ligen, stoßen neu zu dem Team, das dem Abstieg nur äußerst knapp entronnen war. Dass 96 nach schwachen Testspielauftritten in vielen Saisonprognosen ziemlich weit unten und teilweise sogar als Abstiegsanwärter einsortiert wird, ist auch dem Umstand geschuldet, dass dem Übungsleiter nach langer Arbeitslosigkeit nur wenig Kredit entgegengebracht wird. Mit schnellem Umschaltspiel, so die öffentliche Ankündigung, soll 96 eine bessere Saison absolvieren und im gesicherten Mittelfeld der Tabelle einlaufen.
Das war 2010. Der Trainer hieß Mirko Slomka und die von ihm geleitete Mannschaft überrumpelte in der ersten vollständigen Saison unter seiner Leitung die komplette Liga. Am Ende stand für Hannover 96 der sensationelle vierte Tabellenplatz und damit der Einzug ins europäische Geschäft zu Buche. Fünf Jahre später lässt sich eine irritierende Parallelität der Ereignisse festhalten. Wiederholt sich die Geschichte?
Strategische Historie und fußballerische Zukunft
Nach der ersten wilden Fahrt durch die Europa League gelang 96 auch im Folgejahr der Einzug in den internationalen Wettbewerb. Schon gegen Ende dieser Saison drückte die spielerische Armut der 96-Elf zunehmend auf das öffentliche Gemüt. Zur folgenden Saison 2012/2013 ließ Slomka daher verlauten, 96 müsse neben dem schnellen Konterspiel auch stabiler und flexibler im eigenen Ballbesitz auftreten können, um insbesondere gegen tiefstehende Gegner zu Torchancen zu kommen. Der Kader wurde in Ansätzen darauf hin ausgerichtet, der Trainer versuchte es umzusetzen, es funktionierte nicht wirklich. Nach dem spielerisch sehr enttäuschenden Abschneiden auf Platz 9 folgte daher zur Spielzeit 2013/2014 die öffentlich kommunizierte Besinnung auf die alten Stärken – das schnelle Umschalten und intensive Konterspiel sollte wieder das Bild von 96 prägen. Der Kader wurde in Ansätzen darauf hin ausgerichtet, der Trainer versuchte es umzusetzen, es funktionierte wirklich nicht. Ende des Jahres 2013 musste Slomka seinen Hut nehmen. Als sein Nachfolger wurde Tayfun Korkut vorgestellt, der zunächst die Mannschaft taktisch verwaltete und schrittweise an seine Vorstellungen anpasste. Dies bedeutete auch einen Wandel hin zu dem Fußball, den Martin Kind nun bewusst hatte sehen wollen und beinhaltete ein dominanteres Auftreten und mehr Flexibilität und Lösungen im Spiel mit dem Ball. Der Kader wurde in Ansätzen darauf hin ausgerichtet, der Trainer versuchte es umzusetzen, es funktionierte mit ein paar Schwierigkeiten gut. Der Fußball hatte spätestens in der Rückrunde 2015 nur noch sehr wenig mit dem 96 der jüngeren Vergangenheit zu tun. Doch – aus welchen Gründen auch immer – die eher zufällig einsetzende Sieglosigkeit nahm kein Ende mehr und Korkut wurde entlassen. Sein Nachfolger Michael Frontzeck verwaltete zunächst die Mannschaft – und schickt sich seither an, den Kreis zurückzudrehen:
Wir wollen nichts kopieren. Aber mit Ballbesitz spielen, das kann Bayern, das können die Topclubs.
Das ist natürlich ausgemachter Blödsinn, der in seiner vereinfachenden, pauschalen Rigorosität fast schon wieder amüsant wäre, wäre er nicht wörtlich gemeint und diese Ansicht aus Überzeugung vertreten. Das wäre nicht so gut. Es ist allerdings auch möglich, dass dahinter eine sportpolitische Intention steht. Mit dieser populistischen Nicht-Aussage, für die man vermutlich sogar beim Sport1-Doppelpass aus der Live-Sendung komplimentiert würde, kann man hervorragend das 96-Umfeld befrieden. Vielleicht besteht die Hoffnung darin, auf diesem Weg all jene Fans und Journalisten zu versöhnen, die den etwas undeutschen und differenziert kommunizierten Fußball der Korkut-Planungen zunehmend als persönliche Beleidigung ihrer Sehgewohnheiten aufgefasst haben. Das wäre auch nicht schön, aber wenigstens taktisch interessant.
Martin Kinds einstige Vorliebe für aktive und dominante Spielgestaltung, ohnehin ein merkwürdig spontan entstandenes Interesse, scheint unter der letzten Rückrunde jedenfalls stark gelitten zu haben. Schließlich hätte dieser strategische Ansatz auch mit einem anderen Trainer fortgeführt werden können, nachdem Frontzecks Kurzzeitvertrag am Ende der Saison ausgelaufen war. Doch Fußballinhalte sind bekanntlich in gewissen Entscheidungsgremien des Profifußballs überwiegend irrelevant. Die Begründung für die Weiterbeschäftigung Frontzecks lässt in dieser Hinsicht tief blicken:
Michael Frontzeck hat erfolgreiche Arbeit geleistet. Deswegen wollen wir die Zusammenarbeit mit ihm fortführen. Er hat die Mannschaft hervorragend eingestellt und motiviert, er verkörpert Begeisterung und Ehrgeiz.
Parallel zum mittelfristigen Umbruch in der Alters- und Gehaltsstruktur des 96-Kaders gibt’s also mal wieder eine zusätzliche strategisch-spielerische Umorientierung. Die vierte in drei Jahren. Das ist vermutlich diese ominöse „Konstanz in der sportlichen Führung“, von der Kind seit Jahren träumt. Entweder ist dieses Hin und Her ein genialer, perfider Plan, den wir nicht durchblicken, oder… Oder wir kümmern uns jetzt besser um die handfesteren Geschehnisse dieses Sommers.
Die aktuelle Transferphase
Wie bereits erwähnt, wurde natürlich auch zu dieser bevorstehenden Saison der Kader relativ großflächig umgebaut. Wie es auch üblich und richtig ist, spielen die taktischen Vorstellungen des Trainers bei der Auswahl geeigneter Kandidaten eine übergeordnete Rolle. Nachdem der 96-Kader mit dem lange feststehenden Abgang von Kapitän Lars Stindl um etwa ein Viertel seiner Qualität und Spielstärke reduziert wurde, verdeutlichte der relativ widerstandslose Abschied von Stürmer Joselu bereits frühzeitig, in welche Richtung es gehen sollte. Untermauert wurde dies durch die noch vor Beginn der offiziellen Transfermarkteröffnung bekannt gegebene Verpflichtung von Charlison Benschop vom Zweitligisten aus Düsseldorf. Ein sehr flexibler, technisch extrem starker und spielintelligenter Stürmer wurde gewinnbringend ziehen gelassen, während ein extrem schneller, wuchtiger und ansonsten sehr limitierter Konterstürmer neu zur Mannschaft stieß. Mit dem ersten Neuzugang des Sommers wurde zuvor die latente Problemstelle rechts in der Verteidigung bearbeitet. Mit Oliver Sorg konnte Dirk Dufner einen taktisch überzeugenden, in der Defensive flexibel einsetzbaren und stabilen Außenverteidiger verpflichten. Im Gegensatz zum zuletzt nur selten überzeugenden Japaner Sakai verkörpert der ehemalige Freiburger in der Offensive keinen geradlinigen Flügelläufer, sondern schwimmt eher mit seiner Mannschaft in der Vorwärtsbewegung mit und zeigt eine eher zurückhaltende, etwas balancierende Positionierung. Durch seine technische Stärke und seine wuchtigen Distanzschüsse ist er natürlich trotzdem gewinnbringend in der gegnerischen Hälfte einzubringen, doch das klassische Profil eines beim Kontern durchsprintenden Flügelspielers erfüllt Sorg nicht. So befindet man sich immerhin in der glücklichen Lage, auf der Rechtsverteidigerposition je nach Gegner personelle Anpassungen vornehmen zu können.
Durch die Abgänge von Jimmy Briand und einer Reihe von mehr oder weniger aussichtsreichen Ergänzungsspielern entstanden einerseits viele freie Kaderplätze und andererseits eine gewisse Vakanz auf den Flügelpositionen. In diesem Bereich konzentrierte sich die sportliche Leitung offensichtlich eher auf biologische Faktoren, als auf fußballerische Eigenschaften: Die gesuchten Offensivspieler sollten möglichst jung und möglichst schnell sein. Neben dem 22-jährigen Dänen Uffe Bech aus Nordsjaelland verpflichtete 96 mit Felix Klaus einen weiteren ehemaligen Spieler des Absteigers aus Freiburg. Beide erfüllen natürlich auch die öffentlich kommunizierten Suchkriterien: sie sind jung und beide können ganz schnell rennen. Etwas irritierend ist hingegen, dass beide Spieler mit ihren Anlagen vorwiegend auf dem rechten Flügel beheimatet sind und in ihren bisherigen Karrieren auf dieser Position auch ihre besten Leistungen zeigten. Dabei zeichnen sie allerdings ganz unterschiedliche Merkmale und Stärken aus. Während Felix Klaus ein etwas robusterer und eher simpler Flügelstürmer ist, der sich in Umschaltsituationen immer sehr direkt und schnörkellos in Richtung des gegnerischen Tores orientiert (insbesondere mit den Ballannahmen), ist Linksfuß Bech ein taktisch vielseitigerer Akteur. Bedingt durch seine oft bekleidete Rolle als inverser Flügelspieler zog es ihn immer wieder ins Zentrum und teilweise auch weit bis auf die gegenüberliegende Seite. Mit seiner guten Technik agiert der Däne dadurch oft verbindungsgebend und öffnet mit seinen intensiven, manchmal etwas unorthodoxen Sprints in die Tiefe und ambitionierten Dribblings einige Räume. Wird Bech auf Grund seiner Linksfüßigkeit auf der linken Seite eingeplant, wie es vor dem Hintergrund des hohen Flankenfokus in den ersten Spielen unter Frontzecks Regie durchaus vorstellbar ist, ist seine Rolleninterpretation ein gutes Stück konventioneller. Und damit – wegen (noch?) nicht wirklich überragender individueller Qualität – auch weniger effektiv.
Angesichts des kommunizierten Anforderungsprofils für die offensiven Flügelpositionen und der vermuteten spielerischen Ausrichtung gibt das allem Anschein nach recht widerstandslose Einverständnis in Leo Bittencourts Wechselwunsch gewisse Rätsel auf. Bittencourt ist jung, schnell, deutsch und verfügt trotz noch nicht ausgeschöpften Talents bereits über reichlich Erfahrung in der Bundesliga – hätte man sich einen zu den Suchkriterien passenden 96-Zugang in dieser Periode schnitzen dürfen, hätte er verblüffende Ähnlichkeit mit dem Neu-Kölner haben müssen. Der Wunsch des U21-Nationalspielers nach einer sportlichen Veränderung mag aber vielleicht einfach zu groß gewesen sein, als dass es sinnvoll gewesen wäre, ihn zur Vertragseinhaltung zu zwingen. Zudem stagnierte er in seiner persönlichen Entwicklung seit längerer Zeit und seine Defizite in der Entscheidungsfindung und Balance schienen nicht wirklich verschwinden zu wollen. Jedenfalls überrascht er mit angenehmer Reflexion und lobenswerter sportlicher Weitsicht und legt mit der Begründung für seine Entscheidung den Finger zielsicher in die Wunde:
Peter Stöger und Jörg Schmadtke stehen für Konstanz und haben einen klaren Plan.
Um den von einer Mehrheit der 96-Fans nicht wirklich als solchen empfundenen Verlust des bisherigen Stammstürmers Joselu zu kompensieren, präsentierte 96 kurz vor dem Trainingslager Mevlüt Erdinç als Neuzugang für die Spitze. Der in Frankreich aufgewachsene und dort sportlich bisher beheimatete Türke zeichnet sich vor allem durch seine Laufstärke und Schnelligkeit aus, die ihn gepaart mit seiner sehr robusten Erscheinung zu einem durchaus durchbruchsstarken und wuchtigen Stürmer machen. Trotz seiner eher geringen Körpergröße besticht er im Abschluss mit starken Kopfbällen und generell recht guten Bewegungen im Strafraum. Damit wird auch erneut deutlich, dass ein signifikanter Anteil des 96-Angriffsspiels unter Frontzeck offenbar auf hohen Hereingaben in den Strafraum beruhen soll. Erdinç ist vom Profil her also ein eher klassischer und individuell guter Abschlussstürmer, dessen Schwächen aber vorwiegend im Mitspielen und Kombinieren liegen – was analog zu den übrigen Transfers nicht großartig zu stören scheint. Problematisch könnte hingegen sein, dass er abgesehen von Offensivkopfbällen in Luftduellen wenig entgegenzusetzen hat – als Zielspieler lang gebolzter Bälle im Spielaufbau sollte man von Erdinç nicht zu viel erwarten. Wie es um die Pressingkompetenzen des türkischen Nationalspielers bestellt ist, kann an dieser Stelle noch nicht verlässlich eingeschätzt werden. Auf Grund seiner generellen Fähigkeiten ist eine eher simple, aber intensive Rolle beispielsweise im kurzen Rückwärtspressing mit anschließendem schnellen Umschalten auf jeden Fall vorstellbar.
Unmittelbar nach dem Trainingslager in Österreich stieß mit dem jungen Franzosen Allan Saint-Maximin der, so zumindest die Aussage Dirk Dufners, letzte Neuzugang in dieser Transferphase zum 96-Team. Dem ehemaligen Mitspieler von Mevlüt Erdinç in St. Etienne, der direkt nach seinem Wechsel zum AS Monaco für mindestens ein Jahr nach Hannover verliehen wird, eilt der etwas zweifelhafte Spitzname „Mini-Aubameyang“ voraus. Gewisse Ähnlichkeiten in der Spielanlage sind zwischen dem Dortmunder und der französischen Nachwuchshoffnung auch zu erkennen. Saint-Maximin ist ein sehr schneller und dribbelstarker Offensivspieler, der mit seiner quirligen und offensivfreudigen Art auf beiden Flügelpositionen beheimatet ist. Angeblich soll der frisurentechnisch herausgeforderte 18-Jährige auch als Alternative für die Position im zentraloffensiven Mittelfeld geeignet sein. Ob diese Rolle seiner etwas eigensinnigen und noch unterentwickelten Spielweise entgegen kommt, ist allerdings zweifelhaft, zumal er nicht als Sofortverstärkung vorgestellt wird.
Taktik und so
„Schnelles Umschaltspiel“ und „Stabilität“ – was man eben als Trainer in der Bundesliga so sagt. Mit den getätigten Transfers und dem bereits vorhandenen Personal braucht es auch nicht viel Phantasie, um sich das praktische und taktische Ergebnis dieser Ankündigungen vorzustellen. Die Neuzugänge passen auf den ersten Blick gut zu den getroffenen Äußerungen – sie sind schnell, jung (Bech, Klaus, Saint-Maximin), passen in das Anforderungsprofil für simple und schnelle Angriffe mit Neigung zu hohen Flanken (Erdinç, Benschop) und können zur Stärkung der Defensive beitragen (Sorg). 96 hatte klare Vorsätze für die Transferperiode, Dirk Dufner hat sie auf dem Papier und in der Theorie sehr gut umgesetzt. Das Übertragen dieser Ideen auf den Rasen ist allerdings ein größeres Problem.
Nicht so sehr beim tatsächlichen Kontern, also dem konkreten schnellen Angriff nach einer Balleroberung – natürlich genügt die reine Schnelligkeit der Flügelspieler und die Geradlinigkeit der Stürmer alleine noch nicht aus, um damit irgendwie zum Torabschluss zu kommen. Man mag es sich kaum vorstellen, aber sogar beim Umschaltangriff bedarf es gewisser Prinzipien und taktischer Vorgaben! Ob das letztendlich ballnahe Überladungen, diagonale Pässe, Ablagen oder was auch immer wird, ist nicht wirklich zu prognostizieren und daher ein bisschen uninteressant (ballferne Überladungen wären cool, sind aber wohl zu riskant). Zudem zeigten Sané, Schmiedebach oder Kiyotake schon oft gute erste Pässe und Bewegungen im Umschaltmoment. Vor allem aber ist eine genaue Vorhersage der Konterabläufe schwierig, weil sie ganz wesentlich von zwei Aspekten abhängen: den konkreten Fähigkeiten der beteiligten Offensivspieler zum einen, sowie dem Ort und der Art des Ballgewinns zum anderen. Während wir ersteres zumindest ansatzweise gut einschätzen können (s.o.), geben die bisherigen Testspielauftritte bei letzterem noch große Rätsel (und Anlass zu größerer Sorge) auf.
Die angestrebte „Stabilität“ bestand in den ersten Testkicks zumeist in einem kompakten 4-4-2-Mittelfeldpressing in der Ausgangsstaffelung, das noch ohne besonders vielversprechende oder ausgefeilte Elemente zum Erzwingen des gegnerischen Ballverlustes angelegt war. Vor allem während des eher als Bewegungstherapie daherkommenden Lublin-Cups mangelte es auf einer ganz grundsätzlichen Ebene an der Horizontalkompaktheit und sauberen Verschiebebewegungen gegen den Ball. In Anbetracht des bis dahin absolvierten Trainingsprogramms zu einem frühen Zeitpunkt in der Saisonvorbereitung (irgendwas mit Laufen, danach schnell Laufen, dann wieder Laufen, dann Abschlusspiel oder so) war dies wenig überraschend. Im weiteren Verlauf des Einspielens der neuen Spielweise muss allerdings deutlich mehr erwartet werden. Wer „schnell umschalten“ und trotzdem einigermaßen planbar für Torgefahr sorgen möchte, sollte viel dafür tun, wenigstens die Anzahl an bestimmten Umschaltsituationen aktiv zu erhöhen. Dies kann natürlich einerseits durch hohen Druck auf den Gegner im Aufbau und intensives Anlaufen geschehen, danach sieht es allerdings nicht aus. Auch in den Testspielen gegen Hull City und Caykur Rizespor war von dauerhaft frühem Stören nichts zu sehen. Nur das übliche Verbleiben in hohem Pressing bei Abstößen und sporadisches Aufrücken bei Rückpässen auf den Torwart sorgten für kurzzeitigen Druck auf die gegnerischen Aufbauspieler, was allerdings ebenfalls wenig kollektiv und intensiv angelegt war. Stattdessen wurden bereits einige vorbereitende Positionierungen für gewollte Umschaltangriffe angedeutet, indem insbesondere Erdinç zockend seine Beteiligung an der Kompaktheit aufgab und die Flügelspieler aus einer leicht eingerückten Position mit diagonalem Anlaufen der ballführenden Außenverteidiger auf den Ballgewinn lauerten. Zudem gab es einzelnes fast mannorientiertes Anlaufen aus der Formation heraus durch Hannovers Sechser, ohne dass dadurch besonders viele Probleme entstanden wären. Wurde der Ball von der gegnerischen Elf auf den Flügel gespielt, kippte die zweite 96-Pressingspitze ab, versperrte damit den Sechserraum und wäre bei Ballgewinnen auf dem Flügel zudem als umschaltende Anspielstation verfügbar gewesen. Zwar gestaltete sich das Verschieben zum Ball in den beiden Testspielen im Trainingslager ein gutes Stück intensiver und harmonischer als noch in der frühen Phase der Vorbereitung, doch wenn einmal Ballgewinne erzielt werden konnten, geschah dies zu weit in der eigenen Hälfte. Dabei halfen ein paar kleinere, durchaus vielversprechende Ansätze in der Flügelverteidigung, bei der die Gegner auf dem Flügel auch unter Mithilfe des ballnahen Innenverteidigers eingekesselt wurden. Von dort war der Umschaltweg allerdings viel zu lang, sodass die Konter schnell abgewürgt werden konnten.
In dem wohl als Härtetest angedachten Abschluss der Saisonvorbereitung gegen den AFC Sunderland wurden im Prinzip alle der zuvor genannten Erkenntnisse bestätigt. Das Mittelfeldpressing machte einen durchaus ordentlichen Eindruck und das ballorientierte Verschieben gelang sehr viel kompakter als noch einige Wochen zuvor. Das pendelnde Abkippen der jeweils ballfernen Pressingspitze in den Sechserraum, teilweise auch mannorientiert angelegt, wurde nun noch sauberer durchgeführt. Durch den Deckungsschatten des jeweils anderen Stürmers, der den diagonalen Passweg ins Zentrum verhinderte, wurde der Gegner auf den Flügel gelenkt, wo dann der Außenverteidiger diagonal angelaufen wurde. Zusätzlich dazu gab es oft ein mannorientiertes Aufrücken der beiden 96-Sechser zu sehen, wenn sich ein Akteur des Premier League-Clubs zum Unterstützen fallen ließ. Auf diese Art und Weise konnte 96 zwar viele Angriffsansätze abwürgen, war im Timing des Aufrückens und Anlaufens allerdings zu konventionell und zu vorhersehbar, sodass daraus eigentlich nie Ballgewinne entstanden.In dieser Hinsicht besteht also noch viel Handlungsbedarf, sofern 96 mehr Torgefahr nach Balleroberungen erzeugen möchte – ausgeklügelte Pressingfallen, mit denen der Gegner in eine scheinbar freie Zone gelockt und dort vom Ball getrennt werden soll, müssen es ja noch nicht mal werden.
Keine Idee? Wir wären da mal so frei. Mit dieser recht einfachen Anpassung im Pressing könnte man nicht nur sehr klare Verantwortlichkeiten an die beteiligten Spieler verteilen, sondern hätte zugleich eine sehr sinnvolle Anpassung an die individuellen Qualitäten der einzelnen Akteure getätigt. Vor allem aber würde die dargestellte Variante auch eine hilfreiche Vorbereitung des folgenden Umschaltangriffs darstellen, bei dem ebenfalls die Vorzüge der Spieler berücksichtigt werden.
Mit der leitenden Formation im Pressing würde man den Gegner auf die eigene linke Seite locken, um ihn dort zunächst etwas auszubremsen und in Richtung des Flügels zu drängen, beispielsweise durch einen herausrückenden Sechser mit monströsem Deckungsschatten und guter Antizipation, ach, keine Ahnung, dieser eine da, wie heißt der gleich… Sané geht aber auch. An dieser Stelle gäbe es dann verschiedene Möglichkeiten, um den Ballgewinn zu forcieren. Entweder durch Doppeln mit dem Flügelspieler, oder (zusätzlich) durch den rückwärtspressenden Erdinç. Kiyotake würde in diesem Szenario zunächst die Passwege ins Zentrum verstellen und wäre damit nahezu optimal eingebunden: er hätte keine besonders wichtige, mit Dynamik und Robustheit verbundene Rolle im eigentlich Pressingvorgang und wäre nach einem Ballgewinn in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Gerade dieser Umstand wäre für 96 ideal, da der ins Gegenpressing gehende Gegner dem Japaner wenig anhaben könnte. In diesem schnellen und engen Raum könnte Kiyotake seine Pressingresistenz vollständig ausspielen und mit einem präzisen Pass den Konter gegen den anfälligen Gegner einleiten. Bei diesem gäbe es nun ebenfalls mehrere Möglichkeiten: entweder der auf der rechten Seite schnörkellos zum Tor startende Felix Klaus, oder aber der nach dem Pressing dynamisch durchbrechende Erdinç könnte das Ziel des ersten Umschaltpasses sein. Je nach Spielsituation sind auch kurze Ablagen auf etwa Schmiedebach oder den linken Flügelspieler (Prib oder wohl leider Bech) denkbar, die mit dem Ball auf engem Raum durchaus etwas anzufangen wissen und mit kurzen Dribblings die Unordnung des Gegners ansteuern könnten (insbesondere Schmiedebach). Weite Verlagerungen auf die etwas freiere rechte Seite beherrscht Sané, sodass auch dieser Umschaltverlauf denkbar ist, wenngleich dies etwas das Tempo verschleppen würde und in der Folge keine optimale Situation mehr für Klaus wäre. Der ehemalige Freiburger ist kein besonders guter Pressingspieler und wenig erpicht auf das Spiel in engen Räumen, aber dafür sehr durchbruchsstark. Somit wäre die beschriebene Rolle nahezu ideal für ihn. Je nach Gegner und Form könnte man zudem mit Charlison Benschop einen noch simpleren und noch schnelleren Spielertyp auf der rechten Außenbahn aufstellen und noch direkter in die ballferne Tiefe spielen. Diese vorgestellte Variante wäre auf dem Papier insofern sehr interessant und elegant, als sie die leichte Kompetenzasymmetrie in der wahrscheinlichen Startelf nicht nur kaschieren, sondern sogar ziemlich gut ausnutzen würde. Natürlich könnte dies nur eine mögliche Herangehensweise von mehreren beim Erzwingen von Ballverlusten sein, wäre aber auch auf Grund der verschiedenen Anpassungsmöglichkeiten und der recht einfachen Umsetzung bedenkenswert.
Problem: Hiroshi Kiyotake steht nach seinem Mittelfußbruch in den ersten Wochen nicht zur Verfügung. Der japanische Nationalspieler ist ohnehin eine etwas merkwürdige „Säule“ in Frontzecks kommunizierten Plänen. Eigentlich ist, das wurde hier bereits ausgeführt, eine wirklich gute Einbindung seiner Stärken in einem umschalt- und tempolastigen Spielsystem kaum möglich (außer beispielsweise nach dem oben dargestellten Muster: als Scharnier in einer recht dynamischen Umgebung mit offensiven Umschaltbewegungen der Mitspieler und dem Gegenpressing des Gegners). Ohnehin ist bei einer konterfokussierten Herangehensweise ein 4-4-2 mit zwei Zielspielern in der Tiefe intuitiv einleuchtender als ein 4-2-3-1, wobei dies auch von den Rollen der Flügelstürmer abhängt. Dennoch scheint mit Kiyotake stark geplant zu werden – mal schauen, was daraus wird. Vor allem aber wird mal wieder eine viel zu hohe Erwartungshaltung gegenüber Hannovers neuer Nummer 10 deutlich. Große Hoffnungen für das Ballbesitzspiel, das ja nun einmal eine recht prominente Rolle im Fußball spielt, ruhen auf den schmalen Schultern des Japaners. Dass er eher für die vorletzte oder letzte Phase der Angriffe vorgesehen werden sollte bzw. eher einen bestimmten Impuls verwalten und umwandeln kann, statt selber welche zu setzen, wird dabei gekonnt ignoriert.
Grundsätzlich ist die Entwicklung der Frontzeck-Elf im Ballbesitz ohnehin ein etwas zwiespältiges Thema. Zu Beginn der Saisonvorbereitung musste man fast etwas erschrecken, wie lange 96 den Ball in den eigenen Reihen behielt. Wegen der 4-2-4-Staffelungen im Ballbesitz sorgten die schlechten Verbindungen innerhalb der Formation für klassisches Ballgeschiebe – als wollte man den dominanten Ansatz des Ex-Trainers fortführen, dabei aber auf ein paar hilfreiche und existenziell wichtige Vorkehrungen verzichten. Das war aber wohl eher unbeabsichtigt und der inhaltslosen Vorbereitungsphase geschuldet. Gegen Hull und Rizespor wurde das Bild schon konkreter. 96 ließ den Ball nach wie vor recht viel im eigenen Drittel laufen, weil erfreulicherweise sogar Ron-Robert Zieler noch zum Bilden von etwas unrunden und improvisiert wirkenden Torwartketten aufrücken durfte. Oft kippte dann einer der beiden Sechser ab, was die Außenverteidiger zum weiten Aufrücken bewegte. Es folgte ein sehr langer Flugball auf den Flügel, wo dann der eingerückte Außenspieler gesucht wurde oder zumindest auf den zweiten Ball gehen konnte. Ansonsten dominierten lange Spielverlagerungen (praktisch: das können sowohl Gülselam, als auch Sané gut, Schmiedebach kann eh alles) und sehr flügellastige Angriffsversuche aus dem eigenen Ballbesitz heraus. Wenn Schmiedebach einmal anspielbereit und mit Platz im Zentrum ausgestattet war, wurde der Ball nicht vom Flügel in die Mitte gespielt. Geflankt wurde auch relativ viel. Das funktionierte alles folglich genauso gut, wie es sich anhört: ungefähr gar nicht. Diese Erkenntnis setzte sich während der Begegnung mit Sunderland auch bei zahlreichen Zuschauern endgültig durch, die das ziemlich unverbundene und effektlose Gebolze von 96 am Ende mit berechtigten Pfiffen quittierten. Der Ball wurde in der Regel sehr lang auf die beiden Flügel zu bringen versucht, oft durch einen seitlich herauskippenden Sechser (das sichert immerhin den zweiten Ball ein bisschen ab…), egal ob diagonal als Verlagerung oder klassisch die Linie entlang. Dort sollte offenbar irgendwas damit angefangen werden. Vielleicht. Umfassende Lösungen sind hier definitiv gefragt, obwohl Ballbesitz bekanntlich nichts für Nicht-Topclubs ist. Die Beobachter rufen zwar, in vagem Unbehagen, mal wieder nach dem ominösen „spielstarken Sechser“ oder einer zusätzlichen „Kreativkraft“ – aber was sollten solche Leute bewirken, in einer Mannschaft, die schon den Zehnerraum umspielt hat, als Lars Stindl noch da war? Bisher schien dies nicht unbedingt prioritär behandelt worden zu sein, sodass selbst eine sehr unwahrscheinliche Neuverpflichtung in diesem Mannschaftsteil wenig bewirken dürfte. Strukturen sind in den allermeisten Fällen wichtiger als Spieler (obwohl Spieler natürlich Strukturen prägen, aber ohne vorhandene Strukturen helfen Spieler wiederum nicht).
Ausblick
Mal wieder viele Gedanken und viele Worte, ohne dass wir hinterher wirklich schlauer sind. 96 erlebt mal wieder einen Umbruch auf mehreren Ebenen, mal wieder brauchen die neuen Strukturen und Prozesse Zeit, sich zu entwickeln. Die ersten Eindrücke aus den Testspielen sind teilweise in Ordnung, teilweise aber auch extrem schlecht, und die eine oder andere Äußerung zum geplanten Auftreten sorgt für Kopfzerbrechen. Bis zu den Pflichtspielen, vor allem dem sehr schwer einzuschätzenden Bundesligastart in Darmstadt, wartet noch sehr viel Arbeit auf Michael Frontzeck und sein Team. Dirk Dufner hat dem Trainer einen Kader zur Verfügung gestellt, der in der Offensive über sehr viel Tempo und Talent verfügt und mit ein paar spielerisch stärkeren „Altlasten“ versehen ist. Ob das gut genug zusammenpasst, ist weder vorhersehbar, noch ist klar, ob dies überhaupt für die kommende Bundesligasaison genügt. Wenn sich die jungen Neuzugänge gut einfinden, sich der eine oder andere bereits etablierte 96-Akteur steigert und 96 in den ersten Spielen viel Spielglück hat, ist eine relativ entspannte Saison im Mittelfeld der Liga möglich. Wenn diese erhoffte Weiterentwicklung ausbleiben sollte, was aus verschiedenen Gründen immer passieren kann und teilweise auch wird, ist ein weiterer sehr dunkler Saisonverlauf alles andere als ausgeschlossen. Die individuelle Qualität des 96-Kaders ist im Vergleich zur letzten Saison gesunken und war bereits im Vorjahr als ziemlich durchschnittlich anzusehen. Wenn nun noch offensichtliche taktische Mängel hinzukommen, ist nicht sehr wahrscheinlich, dass 96 am Ende besser platziert sein wird als im Mai. Zumal zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich ersichtlich geworden ist, mit welchen Maßnahmen im Detail 96 zum Torerfolg kommen will – im Ballbesitz funktioniert wie versprochen wenig, und um schnell umschalten zu können, sollte 96 den Zufall nicht zwingend als wichtigsten Mitspieler einplanen. Natürlich solle sich 96 laut Frontzeck auch im Ballbesitz im Laufe der Saison „weiterentwickeln“. Ob diese Entwicklung rechtzeitig kommt, wenn sie überhaupt kommt, und dann auch noch effektiv zu einigermaßen stabilen Offensivleistungen führt… In den Testspielen gegen die einigermaßen ernstzunehmenden Kontrahenten gab es jedenfalls handgezählte sieben Torabschlüsse im gegnerischen Strafraum – der überwiegende Rest waren hoffnungslose Versuche aus der Distanz und ganz viel nicht vorhandene Torgefahr.
Um die Defensive hingegen muss sich der 96-Fan wohl keine allzu großen Sorgen machen. Wenn die Tendenzen aus den Testspielen bleiben, sollte 96 zumindest in der Endverteidigung ordentlich aufgestellt sein. Die Entwicklung der Kompaktheit im Pressing ist auf den ersten Blick ebenfalls zufriedenstellend, aber das alleine reicht für gar nichts. Da sich der Saisonverlauf natürlich vor dem ersten absolvierten Pflichtspiel nie auch nur ansatzweise vorhersagen lässt, kann derzeit lediglich mehr oder weniger sinnlos spekuliert werden – die Aussichten auf eine erfreuliche und entspannte 96-Saison waren allerdings schon einmal deutlich besser. Doch das war 2010 auch schon der Fall. Wird sich die Geschichte also wiederholen?
Ziemlich unwahrscheinlich. Es ist einfach nicht mehr 2010.
Bin gerade über spielverlagerung.de auf diese Seite hier gestoßen, und wollte dir/euch (?) einfach nur mal schnell meine Begeisterung hierfür näher bringen. Habe einen sehr umfassenden, taktisch versierten Einblick in die Vorbereitung und Pläne Hannovers bekommen, den ich so vorher nicht hatte. Danke dafür. Eigentlich sollte hier viel mehr los sein. Allerdings habe ich ja noch ein wenig Hoffnung, dass die Taktik-Blogs dieser Welt, die sich tatsächlich noch mit Fußball beschäftigen, den Dopas und Fantalks ein wenig mehr Konkurrenz machen können…
Oh, sehr schön, vielen Dank!
Ja, Hoffnung sollte man immer haben… Wir arbeiten dran ;).