Die Bundesliga hat sich die spektakulärste aller möglichen Paarungen für den Schluss aufgehoben. Am letzten Spieltag der Hinrunde kommt es zum langersehnten Aufeinandertreffen zweier Giganten der Trainerzunft: Ausdruckstanz an der Seitenlinie gegen stoische Gelassenheit, Messias gegen Michael – Pep gegen den Anti-Pep! Mit einem investigativ-taktischen Enthüllungs-Vorbericht wollen wir die ohnehin kaum noch auszuhaltende Spannung anheizen, die kindliche Vorfreude, die dieses Spiel bei jedem Fußballliebhaber auslöst.
Überrascht 96 die Bayern mit aktivem Angriffsfußball?
Nein. Ballbesitz ist was für die Bayern, Freunde! Monatelang hat sich Michael Frontzeck auf dieses eine, große Spiel vorbereitet. Seine Ankündigungen vor der Saison sind von Anfang an im Licht dieses epischen Ereignisses zu sehen: Zurück zu den fußballerischen Wurzeln sollte es gehen, in Hannover kann man traditionell nur mit Bolzen und Rennen erfolgreich sein; der Ballbesitz hingegen, der sei etwas für die Bayern, ließ der Chefcoach verlauten. Als Ankündigung der langfristigen taktischen Ausrichtung völlig missverstanden, gewährte Frontzeck damit bereits im Sommer erste Einblicke in seinen Matchplan für das Spiel gegen den letztjährigen Duselmeister. Die bisherige Saison ist folglich nur als Testphase für den Ernstfall zu verstehen – ausgeklügelte Strategien bedürfen eben einer gewissen Vorbereitung („Die Dinge brauchen Zeit. Die Frage ist, wie viel Geduld hat das Umfeld?“).
Und so wird sich der FC Bayern vor der mitreißenden Kulisse des Niedersachsenstadions der schweren Bürde gegenüber sehen, den Ball so genau wie möglich mit dem Fuß bedienen zu müssen. Während Hannover einfach abwartet was passiert, und sich dann mit dem ersten Konter eine Ecke erspielt. An dieser Stelle wird es für Peps Superbayern nichts mehr zu verteidigen geben. Dem zirka vier Meter großen Edelkopfballtechniker Salif Sané hat eine Riege voller spanischer Zwergenkicker naturgemäß nichts entgegenzusetzen – Frontzecks erster Wirkungstreffer.
Aber das ist erst der Anfang: Der 96-Trainer, ein Meister der cleveren Täuschungsmanöver (Donnerstag: „Hiroshi Kiyotake wird mit großer Sicherheit nicht spielen können“, Samstag: Startelf), hat noch weitere Tricks auf Lager. Mit über Wochen absichtlich einstudierten Abwehrschwächen macht er sich den manischen Vorbereitungswahn seiner angeblichen Trainer-Antithese zunutze. Dass die 96-Innenverteidiger ihre Gegenspieler gerne über große Strecken mannorientiert verfolgen und die übrigen Abwehrspieler eher schlecht darauf reagieren? Nur ein Trick, um Pep mit seiner offensiven Flexibilität in Sicherheit zu wiegen. Lewandowski oder Müller werden sich bei ihren weiten Ausflügen verwundert umschauen: Christian Schulz und Marcelo bleiben einfach im Abwehrzentrum stehen und empfangen den in die letzte Linie nachstoßenden Javi Martinez mit offenen Armen – der nächste Etappensieg.
Dass 96 in vielen Spielen der bisherigen Hinrunde ein allzu passives Pressing zeigte, sodass die Gegner ohne große Anstrengungen ihre Angriffe schnell vor das Tor spielen konnten? Eine clevere Vorbereitung auf einen Gegner, der schnell zu Ende gebrachte Angriffe ohnehin nicht mehr gewohnt ist. Wenn die Bayern mit ihrem unnötig komplexen Positionsspiel, über lange Ballstafetten und dank verschiedener Bewegungen einen freien Mitspieler in einem geöffneten Raum finden wollen, werden sie an Frontzecks Defensive zerschellen: Irgendwo steht immer noch ein Hannoveraner rum. Dass die 96-Flügelspieler oft einen Hang zum mannorientierten Verfolgen der gegnerischen Flügelstürmer zeigten und damit die Kompaktheit im 96-Zentrum verloren ging? Eine Falle! Guardiola soll sich darüber freuen, dass seine zuletzt sehr breite Angriffsreihe automatisch einen Gegenspieler mehr in der Abwehr binden kann und sich die Außenverteidiger frei entfalten können, wenn sie ins Zentrum einlaufen. Schon kurz nach dem Anpfiff wird dieser Fußball-Philosoph mit seinen biblischen Schwimmkünsten aber feststellen: Falsch gedacht, Leon Andreasen lässt sich gar nicht auf die Höhe der Viererkette zurückfallen, sondern rennt über 90 Minuten immer nur dem Ball hinterher. Auch in der Halbzeitpause. Frontzeck weiß: Wer über‘s Wasser laufen möchte, muss nur wissen wo die Steine liegen.
Tore schießen leicht gemacht
Seit der Saisonvorbereitung hat der 96-Coach den Endgegner studiert. Der Fokus der Bayern auf Flügelangriffe und Halbraumdurchbrüche wurde bei der eigenen taktischen Arbeit eingeplant: Dass sich die Roten gerade auf den Außenverteidigerpositionen nicht immer geschickt angestellt haben, muss die 96-Fans nicht beunruhigen – gegen die Guardiola-Elf wird von dieser vermeintlichen Schwäche nichts mehr zu sehen sein. Das gleiche gilt für die schwache Rückraumbesetzung oder die teilweise absurd schlechte Strafraumverteidigung der Frontzeck-Elf. So schlecht, wie die Kommunikation in der Abwehr und das Übergeben der Gegenspieler im Sechzehner teilweise funktionierten, kann es sich bisher nur um Absicht gehandelt haben. Diese Defensiv-Defizite, die den Bayern nur scheinbar haargenau in die Karten spielen, werden die 96-Spieler in der wichtigsten Partie des Jahres selbstverständlich nicht mehr vortäuschen. Egal wie oft Arturo Vidal in den Strafraum einläuft, sämtliche Versuche der Münchner, im Strafraum zum Abschluss zu kommen, werden von Bollwerk-Baumeister Frontzeck („Es geht um Stabilität“) abgewehrt.
Doch der 96-Retter ging im Sommer sogar noch einen Schritt weiter: Auch die Neuverpflichtungen wurden einzig und allein auf das große Spiel ausgerichtet. Frontzeck wollte schnelle Flügelspieler und hat sie, besonders clever, bis heute geschont: Leon Andreasen diente bisher nur als Platzhalter, Uffe Bechs Kneipentouren und Verletzungen waren nur vorgetäuscht. Über die Außenbahnen wird 96 immer wieder brandgefährliche Gegenstöße fahren. Oft wird dem deutschen Rekordmeister nämlich attestiert keine Schwächen zu haben, doch weit gefehlt! Bei Kontern über die Flügel ist der FC Bayern anfällig, weil die Flügelspieler sehr breit im Angriff positioniert sind und die Außenverteidiger kreative Rollen übernehmen sollen. Wenn die Bayern in der gut organisierten 96-Defensive ein ums andere Mal hängen bleiben und auf den Flügeln offen stehen (Gegenpressing? Früher hieß das einfach Kontern…), wird der Fußball, wie man ihn in Hannover spielen muss, seine volle Offensivkraft entfalten. Und wenn Kenan Karaman, der bisher seine natürliche Spielweise als linearer Flügelsprinter gut verbergen konnte, seinen Gegenspieler in den Laufduellen aufgerieben hat, kann Frontzeck seinen großen Trumpf ziehen: Felix Klaus. Wenige Minuten nach seiner Einwechslung wird der kräftige junge Mann mehrere Elfmeter zu schinden versuchen, von denen mindestens einer den Siegtreffer besorgt. Torschütze: Der sicherste Elfmeterschütze der Mannschaft – Mevlüt Erdinç.
Unerwartete Sorgen
Doch wie immer im Fußball bietet auch die beste und gewissenhafteste Vorbereitung auf den Gegner keine Garantien. Zwar hatte Frontzeck darauf gehofft, dass sich bei den Bayern zum Ende des Jahres Verschleißerscheinungen einstellen würden. Doch dass ihre Kräfte in diesem Ausmaß schwinden sollten, konnte selbst der Anti-Pep nicht vorhersehen. In München wurde eine ganz neue Art des Adventskalenders erfunden: An jedem Tag im Dezember öffnet sich an der Säbener Straße ein Türchen, und ein neuer verletzter Stammspieler tritt herein. Aus gut informierten Kreisen ist zu hören, man sei in Hannover gar nicht glücklich über die in den letzten Wochen deutlich abnehmende Leistung der Ballbesitz-Fetischisten. Man sieht die Wertschätzung für den von langer Hand geplanten Coup in Gefahr.
Auch zwei der jüngsten Bayern-Gegner, die für Überraschung sorgten, bereiten Frontzeck und seiner Elf Kopfzerbrechen. Den bajuwarischen Spielaufbau sehr früh zu attackieren, wie es schon Mönchengladbach und Ingolstadt überaus erfolgreich praktizierten, sollte eigentlich die erste 96-Überraschung des Spiels werden. Um sicherzugehen hatte Frontzeck dieses hohe Pressing mit mannorientierten Elementen in den letzten Wochen immer wieder an Gegnern ausprobiert, die Hannover weniger auf Augenhöhe begegnen konnten. Um dieses überaus effektive Element im 96-Spiel für Guardiola nicht zu berechenbar zu machen, wurde die Pressinghöhe aber in der Regel nach einigen Minuten wieder zurückgeschraubt, bis 96 irgendwann mit elf Mann kurz vor dem eigenen Strafraum stehen blieb – gegen die Bayern das typische Spiel all der Trainer, denen es an Kreativität und Ruhe mangelt. Doch Schubert und Hasenhüttl haben Pep gewarnt, ihm ist aufgefallen, dass auch Manuel Neuer hin und wieder mal ein Pass gelingt. Wie hoch Frontzeck seine Mannschaft jetzt ins Feld schicken wird, ist nicht sicher vorherzusagen. Zur Not muss der erfahrene Erfolgscoach auf Plan C zurückgreifen: Leon Andreasen („Will ihn immer auf dem Platz haben“) wird als hängende Spitze aufgeboten – Hände an die Querlatte und hochziehen. Wenn sich Uffe Bech auf Zehenspitzen davor stellt, sollte die Breite des 96-Tors zumindest um etwa einen Meter reduziert werden können.
Letzte Hürden
Obwohl Pep Guardiola natürlich heillos überschätzt wird – hin und wieder hat er mit seinen sinnlosen Umstellungsorgien und unverständlichen Anweisungen während des Spiels Glück und verwirrt damit den Gegner mehr als die eigenen Spieler. Dass Guardiolas in-game-Coaching („Schreibt, wie ihr das wollt. Früher nannte man das einfach ‚Pöbeln‘, Freunde“) – also die vorher ausgewürfelten Positionswechsel – auch seine Spieler verunsichern könnte, kann Frontzeck aber mit großer Sicherheit ausschließen. Denn er hat sich die passende Antwort schon zurecht gelegt. In der 27. Minute, wenn sein spanisches Gegenüber zum ersten Mal das Fuchteln beginnt, ruft Jan-Moritz Lichte von draußen: „Jungs, ab jetzt optionsorientierte Deckungsschattennutzung mit strukturkonsistenter Verschiebemechanik im zweiten Pressingband und balancierte Pendelbewegungen aus der hinteren Reihe in die seitlichen Ausweichzonen im rechten Halbraum!“ Und Frontzeck wird ergänzen: „Leon, immer vorne drauf!“
Letztlich wird diese Anpassung und die monatelange Vorbereitung den Heimsieg sichern. Doch davon wird die breite Öffentlichkeit wie üblich keine Notiz nehmen. Die Zeitungen werden am Montag schwärmen vom „Triumph der Erfahrung, der Coolness und des soliden deutschen Fußballlehrer-Handwerks über den Fußball der pseudo-philosophischen Konzepttrainer, die über Spielsysteme schwadronieren, selber nie den Rasen inhaliert haben und den Sport nur aus einer akademisierten Laptop-Perspektive begreifen.“ Frontzeck selbst wird sich auch in der Stunde des Erfolgs vor seine Mannschaft stellen, seine eigenen Verdienste aber nicht offenlegen: „Die Mannschaft hat wieder alles auf dem Platz gelassen, dem Salif musste ich sogar die Schuhe hinterhertragen“. Großes Gelächter im Raum, Pep Guardiola kratzt sich am Kopf. Eine bessere Bewerbung auf die Nachfolge des wegen Erfolglosigkeit ausscheidenden Bayern-Trainers wurde nie abgegeben.
Nachtrag in eigener Sache
Nach dem Abpfiff werden sich wildfremde Menschen weinend in den Armen liegen, Martin Kind wird Freibier spendieren, „Won’t forget these days“ wird im Stadionrund erschallen. Aber eine Analyse zum Spiel wird es von uns nicht geben, aus Zeitgründen, und weil wir ja ohnehin schon wissen wie es ausgeht (s.o.). Im Idealfall kümmert sich außerdem die sehr viel kompetentere Spielverlagerungs-Autorenschaft darum. Einen allgemeineren Text zu Hannover 96, zum Fußball und den geringen Schnittmengen dieser beiden Dinge wird es dieses Jahr allerdings noch geben.
„kindliche Vorfreude“
Großes, großes Kino 🙂
Danke 🙂
(und puh… hatte die Befürchtung, dass es als vollkommen unlustig aufgefasst wird)
Das ist aber auch nur einer der subtilen, etwas bösen Scherze, die ich eingebaut habe. Hoffentlich bleiben nicht alle unentdeckt ;).
Waaaaaaaaaas, ich dachte das wäre eine fundierte und wissenschaftlich recherchierte Vorabanalyse, auf deren Basis man sichere Kicktipp und Wettbüro Tipps abschließen könnte 😉
Ne ernsthaft, sehr sehr lustig (wenn es nich so traurig wäre). Und um eine thematische Klammer zu bilden, der allerletzte Satz is ebenfalls fantastisch 🙂
Grandios, vielen Dank dafür 🙂 Immer wieder eine Freude hier mitzulesen.
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