Angeschnitten: Ballbesitzeffekte

Spätestens nach unserer ausnahmsweise zutreffenden Vorschau bot das Spiel zwischen Hannover und Schalke aus taktischer Sicht wenig Erwähnenswertes. Die dominanten Merkmale der Begegnung waren mannorientiertes Pressing, lange Pässe, zweite Bälle im Mittelfeld und die Suche nach dem schnellen Konter. Dieses in Details eher uninteressante Aufeinandertreffen liefert allerdings Anschauungsmaterial für zwei große Fragen des (Bundesliga-) Fußballs.

Was wollen wir eigentlich mit diesem Ball?

Nach dem erneuten Trainerwechsel brach mal wieder eine neue Zeitrechnung in unserer Statistik-Aufzeichnung an. Und obwohl wir es besser wissen, archivieren wir vollkommen schmerzlos auch wenig aussagekräftige Kennzahlen wie den Ballbesitzanteil oder die Zweikampfquote. Beide Werte haben, wie vor einigen Jahren mit einer statistischen Untersuchung gezeigt werden konnte, keine besondere Erklärungskraft für das Ergebnis. Die Zweikampfquote verdankt ihre Wertlosigkeit unter anderem einer unklaren Definition: Ein ins Aus gegrätschter Ball ist ein „gewonnener Zweikampf“, obwohl der Gegner in der Folge im Ballbesitz bleibt und ohne Raumverlust einen Angriff starten kann; das geschickte Verstellen des Raumes und Abdrängen des Gegners auf den tor-ungefährlichen Flügel wird hingegen nicht in die Zweikampfstatistik aufgenommen.

Die geringe Aussagekraft des Ballbesitzverhältnisses liegt im Fall der Bundesliga vor allem in ihrer innigen Liebe zum schnellen Spiel begründet. Auch Schalke 04 und Hannover 96 machen mit ihren aktuellen Trainern von dieser jahrelangen Regel natürlich keine Ausnahme. Da Ballbesitz im Spiel immer, Tore aber nur selten existieren, würde auch in dieser Begegnung eines der beiden Teams sehr zur Freude des anderen mehr vom Ball haben müssen. Unser Rat an die Schalker als Auswärtsmannschaft lautete daher in der Prognose: „Lasst euch nicht in eine spielgestaltende, dominante Rolle drängen. (Ihr könnt das einfach nicht.)“

Doch nachdem André Breitenreiter schon bei der Wahl seiner Formation nicht auf uns gehört hatte und seine Mannschaft in einer für das hohe 96-Pressing anfälligen Grundordnung aufs Feld schickte, beherzigten seine Spieler auch diesen Rat nicht. Beides wurde für die Schalker zu einem Problem. 96 stellte die Gäste im Spielaufbau weitgehend zu und zwang sie zu langen Bällen. Gegen das Schalker 4-2-3-1 konnte 96 wieder klare Zuordnungen aufnehmen; die Schalker kamen nicht in die Position, den Raum hinter der hoch stehenden Hannover-Abwehr auszunutzen. Wenn sie den Ball im Mittelfeld festmachen konnten, rückten ihre Außenverteidiger weit in den Angriff auf. Über die Sechser verlagerte Schalke das Spiel zurück und versuchte es über die andere Seite. In der ersten Halbzeit verbuchte S04 fast 56 Prozent des Ballbesitzes für sich. Hannover kam dementsprechend nur auf 44 Prozent der Zeit am Ball, lag in der Torschussbilanz allerdings mit 14 zu fünf deutlich vorne. Mehrmals konnten die Roten wie gewünscht mit ihrem frühen Pressing und ihren Mannorientierungen den (zweiten) Ball gewinnen und schnell zum Tor umschalten.

Außerdem setzt 96 unter Daniel Stendel im Spielaufbau auf sehr direktes Spiel in die Tiefe. Gegen das passivere Schalker 4-4-2 kippte Manuel Schmiedebach zentral zwischen die Innenverteidiger ab oder nach rechts heraus. Im Gegensatz zu Fossum verfolgten Goretzka und Höjbjerg solche Bewegungen nicht, sodass 96 mit seiner Aufbau-Dreierreihe mehr Zeit hatte. Diese wurde für die Vorbereitung auf den langen Ball in die Spitze genutzt, indem sich die Offensivspieler um Sobiech ballten. In diesem Knäuel sollte der Ball mit den technisch starken Mittelfeldspielern (Kiyotake, Fossum) und dem klugen und robusten Zielspieler (Sobiech) gehalten und auf die schnellen Flügelspieler weitergeleitet werden. Auch ohne besonders ausgefeilte Angriffsmuster oder anspruchsvolle Kombinationen kam 96 so immer wieder vor den Strafraum, in die Tiefe und über Flanken zum Abschluss.

Passstatistiken_S04-kurz

Passstatistiken mit hervorgehobenen Werten zur Veranschaulichung der auf direktes Spiel in die Tiefe angelegten 96-Idee. Quelle: whoscored.com

Als sich Schalke im zweiten Durchgang in Führung liegend sogar noch weiter zurückzog, mit der Abwehr tiefer stand und 96 das Spiel machen ließ, näherten sich die Verhältnisse an. 96 hatte in der zweiten Halbzeit einen Ballbesitzanteil von 61 Prozent, erzeugte mit dieser „Dominanz“ aber nur noch halb so viele Abschlüsse wie im ersten Durchgang. Die Innenverteidiger rückten jetzt häufig mit dem Ball am Fuß auf, fanden in der Schalker Formation aber kaum Wege vor das Tor. Das Spiel versandete auf den Flügeln, 96 kam seltener hinter die gegnerische Abwehr und mit weniger Schwung in die Tiefe. Die jetzt fast schon wie Flügelstürmer agierenden Außenverteidiger ließen vor allem in der Schlussphase freie Räume für Schalker Konter. Auch wenn die Breitenreiter-Elf diese Gelegenheiten nicht gut ausspielte, kam sie trotz deutlich weniger Ballbesitz als in der ersten Halbzeit wieder zu fünf Abschlüssen.

Effektivität oder Effizienz?

Als Schalke in den ersten 45 Minuten mehr vom Ball hatte und 96 immer wieder Gelegenheiten zum Kontern gestattete, kamen die Königsblauen zu deutlich weniger eigenen Abschlüssen und spielten dem Gegner in die Karten. Das sehr direkte und eher simple Spiel von 96 aus dem Aufbau heraus führte neben den Umschaltangriffen, wie beim Treffer zum 1:1, zu einer sehr hohen Anzahl an Abschlüssen für Hannover. 96 hatte verhältnismäßig wenig vom Ball, ging mit dem Ballbesitz aber sehr effektiv um und generierte eine Menge Torschüsse. Da viele dieser Abschlüsse aber in hektischen Situationen, aus eher ungünstigen Positionen und nach Flanken erfolgten, zeichnete das 96-Spiel weniger die hohe Chancenqualität, sondern die schiere Masse an optischer Offensivgefahr aus. Abgesehen von Salif Sanés Chance nach einer Ecke in der Anfangsphase und dem Ausgleichstreffer waren aber nur wenige Versuche wirklich gefährlich. In der Endabrechnung kommt 96 auf einen expected-goals-Wert von rund 1,9. Trotz der überwiegenden Mehrzahl an ungefährlichen Torschüssen wären also zwei Treffer vertretbar gewesen.

Dafür mangelte es 96 an der Eigenschaft, die Schalke den Sieg bescherte: Effizienz. Dass Schalke überhaupt erst in die Lage gebracht wurde, sich in der zweiten Halbzeit auf ihr bevorzugtes Spiel besinnen zu können, hatten sie ihrer Chancenverwertung zu verdanken. Das Schalker Spiel krankte wie gewohnt am Kreieren von Tormöglichkeiten und trug darüber hinaus zur optisch überzeugenden 96-Leistung bei. Dafür waren die Abschlüsse der Schalker im Schnitt hochwertiger, wurden nicht mit Flanken vorbereitet und erfolgten aus besseren Positionen (xG-Wert 1,6). Vor dem Führungstor kurz vor der Pause, das den beschriebenen Spielverlauf in der zweiten Halbzeit zur Folge hatte, blieben sie 49 Sekunden lang ununterbrochen am Ball. Zumindest in dieser Sequenz wusste eine der beiden Bundesligamannschaften einmal etwas mit dem Ball anzufangen.

2 Kommentare

  • AlbertC sagt:

    Vielen Dank für den wiedermal erhellenden Artikel.
    Hier die Antwort auf Deine Frage:
    Effektivität = Ergebnis : Zielsetzung
    Effizienz = Ergebnis : Aufwand
    Effektiv arbeiten bedeutet, so zu arbeiten, dass ein angestrebtes Ergebnis erreicht wird. Effizient arbeiten bedeutet, so zu arbeiten, dass erzieltes Ergebnis und eingesetzte Mittel in einem optimalen Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Effektivit%C3%A4t

    • Jaime sagt:

      Jo, steht da ja. Bei 96 effektiver Umgang mit Ballbesitz (im Verhältnis dazu sehr viele Torchancen, die ja das Ziel sind), bei Schalke sehr effizienter Umgang mit den Chancen.

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