Zwischenbilanz: Die Rückrundendelle

Vier Niederlagen in Folge, neun Punkte aus den bisher absolvierten zehn Rückrundenspielen: The trend ist nicht Hannovers friend. Wie lässt sich der latente Abschwung in der 96-Leistung erklären?

Zwischen den Toren nicht unbedingt

Es wird natürlich während einer solchen „Krise“ relativ viel gemurrt, 96 spiele eben viel schlechter, nach vorne gehe so gut wie gar nichts und hinten fange man sich ja doch immer mindestens einen. Das ist im Einzelfall alles nicht falsch. Es war allerdings im Einzelfall auch schon in der Hinrunde richtig, hat da aber nicht so sehr gestört, weil eben die Ergebnisse genügend überdeckt haben. Das ist das gleiche Phänomen, das regelmäßig dafür sorgt, dass eine Mannschaft nach einer „bis hierhin enttäuschenden Vorstellung“ nur eine oder zwei gelungene Szenen braucht, um dann „mit einer verdienten Führung“ in die Halbzeitpause zu gehen, wenn man dem Kommentator glaubt (eine Mischung aus verschiedenen kognitiven Verzerrungen, unter anderem dieser und dieser und dieser.)

Bei nüchternerer Betrachtung zeichnete das 96-Spiel auch in den letzten Wochen einiges aus, was als ursächlich für die erfolgreiche Hinrunde ausgemacht wurde: 96 ist taktisch weiterhin ziemlich flexibel, reagiert öfter als die meisten anderen Mannschaften auf den Gegner und ist dadurch ein ebenso unangenehmer wie schwer vorhersehbarer Kontrahent. Es gab lediglich eine etwas andere Entwicklung, indem es zu Beginn der Rückrunde nach einer weniger streng manndeckenden und nicht so konsequent zustellenden Pressing-Strategie aussah. Doch auch auf diesen Standard-Plan aus den ersten 17 Spielen hat 96 dann immer mal wieder zurückgegriffen. Im Gegensatz zur Hinrunde, als man das „natürliche Grundsystem“ noch am ehesten im 4-2-3-1 sehen konnte, bildet mittlerweile das 5-2-3 die Basisformation des 96-Spiels und den Ausgangspunkt der Umstellungen – zunächst mit Klaus als Zehner und damit im 5-2-1-2, ehe er diese Rolle prinzipiell beibehielt, aber sie diagonal von rechts interpretierte und damit Platz für Julian Korb machte, der sehr viel offensiver agierte als in der Hinrunde.

Das fundamentale Schema im 96-Spiel ist davon aber weitgehend unberührt geblieben: Aus der 3-1-Struktur im Spielaufbau heraus (entweder mit der Dreierkette und Schwegler als tieferem Sechser, oder durch Abkippen von Schwegler zwischen die Innenverteidiger und dem zweiten Sechser davor) kann sich 96 auch gegen einen engagiert störenden Gegner ganz ordentlich befreien und den Angriff ohne große Hektik vorbereiten. Dazu kam in der Rückrunde mit der situativen Aufbau-Viererkette ein neues taktisches Element, das gute Dienste gegen gegnerische Zustell-Versuche leistete. Der Übergang nach vorne ist dann recht direkt und mitunter auch ein wenig chaotisch: Viele Spieler lassen sich aus der Sturmreihe zu den Seiten oder ins Mittelfeld fallen und empfangen manchmal flache Pässe aus der Abwehr, oder attackieren den zweiten Ball. Der Achterraum wird überwiegend dynamisch und situativ statt systematisch genutzt, weswegen auch Iver Fossum weiterhin nicht optimal eingebunden wird. Lange Bälle auf Füllkrug und Verlängerungen hinter die Abwehr gehören ebenso zu den bekannten Mustern und sind wegen der asymmetrischen Rollen von Bebou (links meistens klassischer als Flügel- oder Halbstürmer) und Klaus mit der daraus folgenden Sonderrolle für Korb (teilweise schon in der Grundstaffelung eher wie ein breit stehender Flügelstürmer) auch immer wieder wirkungsvoll. Die Unterschiede zur Hinrunde sind hier nur in Details zu finden (die auch wichtig sind, aber nicht so konstant gut (wie beispielsweise beim schönen Tor gegen Köln) oder schlecht funktionier(t)en, dass sie entscheidend wären).

Dass 96 im Endeffekt auch gar nicht der selbstgesetzten Hinrunden-Marke hinterherhinkt, bestätigen folgende Zahlen: Während Hannover in der Hinrunde rund vier Schüsse pro Spiel auf das gegnerische Tor zustande brachte, sind es in den letzten zehn Spielen 5,2, also in jedem Spiel eine gute Chance zusätzlich. Insgesamt kommt 96 in 90 Minuten knapp 15 Mal zum Abschluss, auch das ist ein wenig mehr als in der Hinrunde. Weder der Ballbesitzanteil, noch die Passquote weicht stark von den Hinrundenwerten ab (und ohnehin sollte man mindestens eine Augenbrauche skeptisch gen Himmel lupfen, wann immer jemand Ballbesitz und Passquote als Begründung für irgendwas anführt). Hannover spielt zwar 40 Pässe mehr pro Spiel, aber da sich die Passquote wie gesagt kaum verändert hat, kann man in dieser minimalen Abweichung keinen besonders stichhaltigen Beweis für die Behauptung finden, 96 habe sich „in der Rückrunde spielerisch weiterentwickelt“ – schließlich sei hier nochmal daran erinnert, dass bereits in der Hinrunde die bizarrsten Bayern-Vergleiche zum Ballbesitzspiel von Hannover gezogen wurden, während 96 wohlgemerkt bereits die drittschlechteste Passquote der Liga hatte (und noch immer hat).

Aber das macht nichts, denn auch in Sachen Balance und Organisation hat sich Hannover, wenn überhaupt, nicht stark verschlechtert: Im Jahr 2018 ließ 96 pro Spiel knapp 13 gegnerische Abschlüsse zu (in der Hinrunde 15,2 und in den ersten zehn Spielen mit 13,9 ebenfalls etwas mehr) und gestattete dem Gegner 4,6 Schüsse auf das Tor (Hinrunde insgesamt 5,6; erste zehn Spiele 4,4). Hannover schießt also auf durchschnittlichem Niveau etwas öfter selber in Richtung und auf das Tor als der Gegner, verliert aber häufiger.

„Es gleicht sich immer alles aus“

Auch wenn das eine sehr pauschale Floskel ist, kann man das in diesem Fall so stehen lassen: Hannover hat in der Hinrunde über seine Verhältnisse gepunktet, und da 96 seine spielerische Leistung bisher nicht besonders steigern konnte (wir sprechen ja stattdessen, siehe oben, sogar über eine gefühlte Verschlechterung), ist der Abwärtstrend zwar nicht zwangsläufig, aber alles andere als ungewöhnlich. Ein paar Kleinigkeiten haben sich im 96-Spiel natürlich trotzdem verändert: Hannover spielt ein wenig direkter vor das Tor und schließt häufiger aus der Distanz ab. Weder nach Flanken, von denen 96 statt wie in der Hinrunde 15 mittlerweile 20 pro Spiel anbringt, noch nach Schüssen von außerhalb des Strafraums ist ein Torerfolg im Durchschnitt sehr wahrscheinlich. Da in den letzten zehn Spielen aber fast jeder zweite 96-Schuss aus der Distanz abgegeben wurde (gegenüber 38% in der Hinrunde), verschleiert die leicht gestiegene Offensivproduktivität den leichten Rückgang der Chancenqualität. Hannover schießt zwar öfter, mitunter auch aufs Tor, aber die Chancen sind nicht besser. 96 hat sich bisher weniger Großchancen (die definieren wir als über 30% Trefferwahrscheinlichkeit, also 0,3 xG und aufwärts) erspielen können als in der Hinrunde, und anders als im Spätsommer trifft 96 auch einfach seltener aus eigentlich eher aussichtslosen Positionen.

xGVerteilung

Die Anzahl der 96-Torschüsse aus der Hin- und der bisgerigen Rückrunde an Hand der ihnen zugewiesenen Torwahrscheinlichkeit (xG – „expected goals“). Wichtig ist nicht so sehr die Länge der Balken (weil wir hier den Output von 17 mit dem aus 10 Spielen vergleichen), sondern die Links-Rechts-Ebene: Leichter Überhang der Hinrunde nach rechts (= etwas mehr große Chancen in der Hinrunde).

xGAnteil-Vergleich

Zur besseren Vergleichbarkeit: der prozentuale Anteil von Chancen an allen Schüssen in Hin- und bisheriger Rückrunde. Schlecht ist, dass die schlechten Chancen (xG <0,03 und xG <0,1) in der Rückrunde einen größeren Anteil an allen Schüssen einnehmen, als ind er Hinrunde, während das Verhältnis bei den hochprozentigen Chancen rechts eher andersherum ist. (Datenquelle: understat.com)

96 wird von seinem Hinrunden-Glück eingeholt: Die damaligen 36% Chancenverwertung, auf deren fragliche Nachhaltigkeit wir in der Winterpause hingewiesen hatten, sind mittlerweile auf Normalmaß zusammengeschmolzen: In der Rückrunde hat 96 bisher nur 17% seiner Torchancen genutzt, sodass Hannover jetzt insgesamt bei 27,7% steht – das ist bis auf 0,3% der gleiche Wert, wie ihn auch Hannovers Gegner vorweisen können (deren Quote ist stabil geblieben). Beide Werte sind ziemlich normal und man kann davon ausgehen, dass sie in den ausstehenden sieben Spielen auch ungefähr auf diesem Niveau verbleiben. Insofern ist Hannovers kleine Torflaute in den letzten Wochen zwar ärgerlich, aber war erwartbar, weil wir ja schon sehen konnten, dass Hannovers Torerfolge am Anfang der Saison nicht auf ein „Austricksen“ der zweifellos unvollkommenen xG-Metrik zurückzuführen waren (wie es z. B. bei Lucien Favre und zum Teil auch bei Tedesco und Nagelsmann bekannt ist).

Tore-xG

Die Entwicklung von tatsächlich geschossenen und „erwartbaren“ Toren: Über weite Strecken der Hinrunde hat Hannover öfter getroffen, als die Qualität ihrer Chancen es nahegelegt hat. Auch zu Beginn der Rückrunde war das noch der Fall, doch zuletzt glichen sich Theorie und Realität an.

Grund für schlechte Stimmung

Der einzige Punkt, an dem sich tatsächlich Sorgenfalten aufdrängen, ist der kurzfristige Trend innerhalb der Rückrunde: Die letzten Spiele waren eben nicht nur wegen der Niederlagen, sondern viel mehr wegen der Leistungen nicht zufriedenstellend. Das betrifft vor allem die Defensive: In den letzten vier Partien hat Hannover 15 Großchancen (über 0,3 xG) zugelassen und damit genauso viele wie an den zwölf Spieltagen zuvor. Angesichts der jeweiligen Gegner ist das ein Alarmsignal (in der Hinrunde waren es gegen diese Mannschaften nur vier Großchancen), auch weil die kommenden Begegnungen ja nach den Erfahrungen der Hinrunde nicht unbedingt einfacher werden. Zum Teil liegt das in einer schlechteren Standard-Verteidigung begründet und zum Teil auch an einer gewissen Anfälligkeit für Schnittstellenpässe. Aber vor allem bietet es sich an, das in diesen Spielen meistens sehr zurückhaltende Pressing in den Blick zu nehmen: Gegen Gladbach, Frankfurt und Dortmund trat 96 über weite Strecken ohne Angriffspressing auf, und gegen Augsburg fehlte trotz hohen Pressings der Zugriff, weil Augsburgs breiter Aufbaustaffelung und ihrem sehr langballastigen Spiel mit einer reinen Pressing-Strategie nicht beizukommen ist.

xG-xGA

Der xGA-Trend (die kummulierten Werte aus den Einzelspielen seit Saisonbeginn) zeigt sich in den letzten Wochen steiler, während die aufsummierten „erwartbaren“ eigenen Torerfolge eher fallen. Insgesamt zeigt sich: Hannover ist schon seit Mitte der Hinrunde eigentlich konstant unterlegen, was man daran erkennt, dass der Abstand zwischen eigenen und gegnerischen xG meistens größer wird.

Außer gegen Dortmund, als 96 im 5-2-3 recht passiv auftrat, war all diesen Spielen gemein, dass Hannover sich anders als in der Hinrunde nicht in einer das Gegenüber spiegelnde Formation begab und deshalb keine Gleichzahl gegen den gegnerischen Aufbau herstellen konnte. Ohne diese taktische Hilfestellung, das war bereits in der Hinrunde punktuell zu sehen, fehlt der Mannschaft aber bis zu einem gewissen Ausmaß das Rüstzeug, um kollektiv gegen den Ball zu arbeiten. Die mangelnde Intensität im Pressing, die bei Manndeckung quasi unerheblich ist, bzw. nur individuell abgerufen werden muss, schmerzt Hannover bei einem passiveren Ansatz gegen den Ball umso mehr und vermindert die Stabilität. Wenn Breitenreiter mit seinem Team diesen Trend umkehren oder zumindest abschwächen kann, wird sich der aktuelle Negativlauf immerhin nicht verstärken.

Ggtore-xGA

Hannovers eigentliche Stärke ist die Verteidigung: In der gesamten Hinrunde hat 96 weniger Gegentore hinnehmen müssen, als man es an Hand von expected goals angenommen hätte. Der Schlüssel zur Rückkehr zum Erfolg liegt darin, die schwarze Linie wieder unter die rote zu bekommen.

1 Kommentar

Leave a Comment