Die fast schon zur Floskel verkommene Beobachtung, wonach Standardsituationen immer wichtiger werden, ist bei uns bislang weitgehend folgenlos geblieben. Dabei sind „ruhende Bälle“ unter all den komplizierten Elementen des Fußballs der wohl dankbarste Analysegegenstand, schließlich laufen sie unter, naja, standard-isierten Bedingungen ab. Deshalb kann man davon ausgehen, bewusste und einstudierte Handlungen in einem Ausmaß zu beobachten, wie es im sonstigen Spiel eher nicht unterstellt werden sollte. Bis zu dem Spieltag, an dem der Hauptlizenznehmer für die Bewegtbildrechte der Bundesliga die Entscheidung fällte, sein funktionierendes On-Demand-Angebot durch einen kundenfeindlichen Haufen nutzlosen Schrotts zu ersetzen, haben wir deshalb ein genaueres Auge auf Hannover 96 und die Standardsituationen geworfen.
Freistöße, offensiv
Die eher geringe Anzahl von Freistößen in Strafraumnähe und vor allem die größere Vielfalt möglicher Freistoßpositionen macht das Erkennen von Mustern schwieriger als bei Eckbällen, sodass die Analysen weniger sicher sind. Insgesamt zeigte sich 96 aber in der Ausführung seiner Freistöße eher schlicht und ohne allzu große Variationen – überraschende kurze Freistoßvarianten gab es beispielsweise nicht zu sehen. Auch die Laufwege für die hohen Hereingaben waren meistens nicht besonders aufregend: Aus einer öfter zu sehenden 2-4-Staffelung (zwei Spieler sind ballnah etwas vom Rest dahinter abgesetzt) starteten die meisten Spieler Läufe vor das Tor und endeten auch überwiegend auf einer Höhe. Vor allem Füllkrug, aber auch Walace (Nr. 8) oder Kevin Wimmer (Nr. 28) waren als Zielspieler eingeplant.
Es gab bei aller Betonung der Tiefenläufe aber auch ein paar ganz gute kleinere Ideen: So startete Füllkrug (Nr. 24) manchmal aus einer Abseitsposition, wenn 96 bewusst auf den zweiten Ball zu spielen plante, damit er sich einen Vorsprung gegenüber den Verteidigern erarbeiten konnte, die ja einen gewissen Reaktions-Nachteil in ihrer Bewegung haben. Um die dafür nötige Vorbereitung zu erleichtern, gab es kreuzende Laufwege in Richtung des zweiten Pfostens. Solche kleinen Tricks scheinen aber keinen großen Mustern zu folgen, sondern individuell für einzelne Spielerpärchen oder je nach den Schwächen des Gegners für jede Begegnung aufs Neue zugeschnitten zu werden.
Eckbälle, offensiv
In der letzten Saison noch eine der Stärken, tat sich 96 in der Hinrunde schwer mit der Torgefahr bei Eckbällen. Den drei Treffern nach ruhenden Bällen in dieser Hinrunde (nur ein Tor davon entfiel auf einen Eckball) stehen 14 in der gesamten letzten Saison gegenüber, was nur von Bayern München überboten wurde. Nach Eckbällen kam Hannover auf 90 Minuten gerechnet auf einen Abschluss weniger als in der Spielzeit 2017/2018. Ohne es genauer analysiert zu haben, ist es wohl keine gewagte Hypothese, das Fehlen von Salif Sané als großen Faktor für den Rückgang der Torgefahr bei Ecken (und Freistößen) zu verzeichnen. Mit diesen beiden sehr guten (im Fall von Sané (Nr. 5) allerdings nicht unbedingt wegen der Technik) Kopfballspielern war es 96 sogar erlaubt, ganz simple Ecken-Varianten erfolgreich abzuschließen:
Jetzt hat 96 mit Niclas Füllkrug nur noch einen klaren Zielspieler, nur noch einen wirklich gefährlichen Offensivkopfball-Spieler. Die möglichen Abschlussvarianten sind damit eingeschränkt und das Verteidigen wird für den Gegner erleichtert. 96 versucht daher, Füllkrug mit aufwendigeren Abläufen als in diesem markanten Beispiel so gut wie möglich in Position zu bringen.
Standard-Variante: Füllkrug zum kurzen Pfosten mit Wimmer-Block
Mit kleineren (oder auch mal größeren) Anpassungen, aber unter Beibehaltung von zwei, drei festen Mustern hat sich in der Hinrunde eine Eckball-Variante herauskristallisiert, auf die vor allem von der (in 96-Spielrichtung gesehen) rechten Seite zurückgegriffen wurde: Der Ball wird hoch auf den ersten (kurzen) Pfosten gespielt, wo Füllkrug möglichst unbedrängt zum Kopfball kommen soll; um das zu gewährleisten, sperrt Kevin Wimmer (oder ein anderer robuster Spieler) den Laufweg des Füllkrug-Gegenspielers und meistens auch ein weiterer Mitspieler den Absprungraum frei. Der Weg zum zweiten (langen) Pfosten wird meistens von Waldemar Anton belaufen, der in der Regel mit etwas Abstand von der engen Staffelung um den Elfmeterpunkt herum zwischen Füllkrug, Wimmer/ dem Blockspieler und dem auch eher als Zielspieler eingeplanten Walace startet. Ein im Fünfmeterraum postierter Spieler läuft meistens vor der Hereingabe in Richtung der Eckfahne und zieht damit idealerweise nicht nur einen defensiven Spieler aus der umkämpften Zone heraus, sondern macht damit auch den Abschluss-Korridor zum Tor frei.
Das Blocken oder Sperren des Füllkrug-Gegenspielers kann unterschiedlich erfolgen. Wimmer kann beispielsweise seinen eigenen Gegenspieler so bearbeiten, dass der in den Laufweg von Füllkrugs Manndecker gedrückt wird und im Weg steht:
Auch möglich ist eine etwas rustikalere Herangehensweise, wie das Beispiel aus dem Spiel gegen Bremen zeigt:
Die Hereingabe wird vom Tor weggezogen, sodass Füllkrug bei seinem Lauf in Richtung des ersten Pfostens, der meistens in einem Bogen um seinen Blockspieler Wimmer herum verläuft, in den Ball hinein gehen kann. So kann er zum einen großen Druck in seinen Kopfball legen, bringt zum anderen aber auch einen guten Winkel sowie ein gutes Sichtfeld zum Tor mit in den Abschluss. Füllkrug kommt im Idealfall also mit dem Gesicht (aus der Drehung) zum Tor und mit Wucht in ein Duell gegen Verteidiger, die nur relativ statisch zum Ball gehen können, weil er mit Hilfe seiner Mitspieler seinen ursprünglichen Bewacher abschütteln konnte.
Natürlich beobachten auch die Gegner Hannovers Standard-Verhalten und suchen nach adäquaten Rekationen darauf – Füllkrug in Manndeckung nehmen zu wollen erscheint zum Beispiel als ein hinterfragungswürdiger Ansatz. Ein Beispiel aus der Hinrunde für eine weniger stark mannorientierte Ecken-Verteidigung als beim KSC gegen Hannovers Haupt-Variante zeigt, dass man 96 so mehr Probleme bereiten kann:
Da 96 für die Hereingabe bislang keinen Linksfuß (mehr) zur Verfügung hat, wurde die Ausführung auch bei Eckbällen von der anderen Seite von Schwegler, Fossum oder Muslija, also rechtsfüßigen Spielern, übernommen und also der Ball zum Tor hingezogen. An die Stelle des „Hereingehens“ in den Ball tritt damit eher ein Verlängern oder Verstärken seiner natürlichen Flugbahn, und vielleicht wurde auch deshalb bei einigen Eckbällen von der linken Seite nicht konsequent der erste Pfosten, sondern häufiger als von rechts der Bereich zentral vor dem Tor anvisiert. Insbesondere zu Saisonbeginn wurde aber im Großen und Ganzen auch bei Ecken von links auf den oben beschriebenen Ablauf zurückgegriffen. Der größte Unterschied lag darin, dass Füllkrugs Bogenlauf in ein paar Fällen nicht außen um Wimmer herum verlief, sondern er innen, gewissermaßen in Wimmers Rücken in Position lief.
Weitergehende Variationen
Das vorige Beispiel aus dem Leipzig-Spiel zeigt es schon: An kleineren oder größeren Stellschrauben wurde natürlich beständig geschraubt. Gegen Leipzig wird beispielsweise der zweite Fünfmeterraum-Spieler gestrichen (vielleicht wegen der massiven Kette an der Fünfmeterlinie), dafür aber die Rückraumabdeckung um einen Spieler aufgestockt. Das kann entweder eine offensive Maßnahme sein, weil beispielsweise eine Anfälligkeit der Sachsen für Abpraller festgestellt wurde (zum Beispiel, weil alle Spieler auf den Ball gucken und die Räume hinter ihrem Elfmeterpunkt vergessen, was man auch auf diesem hohen Niveau sehr häufig sieht) oder als defensive Vorkehrung gegen das extreme Tempo von Werner und Co. im Umschalten.
Generell lässt sich im Hinrundenverlauf eine Anpassung der Rolle des zweiten Spielers im Fünfmeterraum feststellen: Asanos Gegner-Binden und idealerweise -Sperren aus der frühen Saisonphase (z. B. Karlsruhe, Werder) wurde, vielleicht wegen des sehr überschaubaren Ertrags dieser Maßnahme, später von Bobby Wood (Nr. 17) ganz anders interpretiert und vor allem auf den gegnerischen Torwart ausgerichtet, vielleicht auch als Option für Abpraller. Genutzt hat 96 das aber auch nicht viel, sondern eher im Gegenteil: einen sehr gefährlichen Abschluss gegen Leverkusen machte Wood so durch seine Abseitsstellung zunichte.
Änderungen in der Raumbesetzung unter weitgehender Beibehaltung der sonstigen Aufgabenverteilung gab es beispielsweise gegen Hoffenheim, die ebenfalls illustrieren, dass man natürlich nicht völlig ohne Abweichungen den immer gleichen Stiefel abspulen sollte und auch immer die Stärken der Gegenspieler und die Schwachstellen der kollektiven Defensivleistung des Gegenübers bei Standardsituationen Eingang in die Planungen finden:
Bezeichnenderweise gelang 96 das einzige Tor in Folge eines Eckballs just in dem Spiel, in dem Hannover statt der üblichen sechs Spieler nur fünf in den gegnerischen Strafraum stellte (warum, ist schwer zu sagen). Und Pech für Waldemar Anton: Nur ganz selten übernahm er nicht den Lauf auf den zweiten Pfosten, und ausgerechnet in diesem seltenen Fall wird ein gegnerischer Klärungsversuch zur Torvorlage. Vielleicht hätte das sogar das Gerede von einer angeblichen großen Formkrise verstummen lassen…
Dabei kann 96, wenn es der Spielverlauf verlangt, auch mit sieben Spielern auf den Torerfolg dringen:
Für die Rückrunde bleibt abzuwarten, wie 96 auf den Ausfall seines bislang vorrangigen Zielspielers reagiert und wie der weitere Abfall an nomineller Torgefahr kompensiert werden soll. In der Hinrunden-Endphase deuteten sich schon kleinere Erkenntnisse dazu an, aber einerseits waren die nicht sehr erfolgversprechend und andererseits wollen wir ja auch nicht die Arbeit der Gegner machen.
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