Thomas Doll sucht weiter nach einem tragfähigen und umsetzungsstabilen Mannschaftsgerüst. 96 verliert zwischendurch ein paar Spiele, aber dafür ist Dr. Doll dem Ziel vielleicht ein gutes Stück näher gekommen. Wir stellen fest: Es ist (mal wieder) identisch mit dem Start.
Mischsysteme und Formationswechsel
In seinen ersten Spielen als 96-Trainer hatte Doll, nicht unähnlich zu seinem Vorgänger, durch taktische und formative Anpassungen versucht, das Niveau seiner Mannschaft zu stabilisieren. Was nicht versucht wurde – vielleicht wegen der vermuteten geringen Erfolgsaussichten angesichts der drängenden Tabellensituation – war das kurzfristige Einstudieren substanzieller Mechanismen, die der Mannschaft eine andere, eigene Richtung hätten geben können.
Auch in den folgenden Spielen blieb Doll insofern bei seiner (und mit Abstrichen Breitenreiters) Linie, als er entweder Fünferkettenvariationen (5-2-1-2 gegen Frankfurt, 5-2-3 gegen Stuttgart) oder eine an den Gegner angepasste, spezifische Viererkettenformation (4-3-2-1 gegen Leverkusen) als Grundlage wählte. Wie schon unter Breitenreiter kann das natürlich bei entsprechender Umsetzung aufgehen (erste Halbzeit gegen Frankfurt), wenn 96 in allen Spielphasen kompakt und körperlich robust auftritt, den (zweiten) Ball irgendwie nach vorne durchdrückt und eine gewisse Wucht nach langen Bällen oder in schnellen Angriffen entwickelt. Die Mischung aus häufigen Formations-, Personalwechseln und vor allem der (zum Teil damit einhergehenden) mal mehr und mal weniger starken Ausrichtung am Gegner scheint mit der derzeitigen Mannschaft aber einer Stabilisierung im Weg zu stehen. Die „Ausrichtung am Gegner“ betrifft nämlich nur zur Hälfte die strategische Überlegung vor dem Spiel (wie und mit welcher Formation spielen wir?), sondern auch das defensive Verhalten der Spieler (geh ich zum/ mit dem Gegenspieler oder orientiere ich mich am Raum?).
Im Resultat zeigte 96 vor allem gegen Stuttgart und Leverkusen schwache Auftritte in der ersten Halbzeit, die hauptsächlich auf die fatale Mischung aus vorher schon vorhandener Verunsicherung/ Instabilität und jeweils neuer Uneingespieltheit in einem uneindeutig ausgerichteten Defensivverbund zurückgeführt werden können. In beiden Spielen setzte 96 auf ein Mittelfeldpressing und war um Kompaktheit bemüht, kombinierte das aber mit entweder engen, aber nicht flächendeckend oder stringent innerhalb der Mannschaftsteile abgestimmten Manndeckungen oder mit grundsätzlich mannorientiertem, aber auch nicht konsequent umgesetztem Pressing. Vereinfacht ausgedrückt: 96 hat taktisch mittlerweile alles schon mal gespielt und spielt an schlechten Tagen deshalb auch Ansätze von fast allem gleichzeitig. 96 befindet sich fast konstant in den beiden Graubereichen ganz guter Plan, aber schwammig umgesetzt und ordentliche Leistung innerhalb eines nicht besonders ausgefeilten Setups. Das reicht in der Bundesliga auf Dauer nicht.
Gegen Leverkusen passte das 4-3-2-1 (bzw. das 4-3-3 mit eng spielenden Flügelstürmern) prinzipiell gut gegen die starken Leverkusener Mittelfeldspieler, die sehr offensiv ausgerichtet und ballsicher im Zentrum spielen, während von hinten viele Spieler im Gegenpressing aufrücken. Mit Maina und Haraguchi als Konter-Spieler neben Ballfestmacher Jonathas im Sturm klingt das nach einem soliden Plan. Leverkusens asymmetrische Aufbaustruktur, in der der linke Außenverteidiger Jedvaj tief blieb und die Innenverteidiger im Aufbau zur Dreierreihe ergänzte, während Rechtsverteidiger Weiser weiter aufrückte und Havertz, nominell im 4-2-3-1 der rechte Flügelspieler, nach innen rückte, zog sich selber gewissermaßen die Räume frei, die die Bosz-Elf für ein nicht wirklich überzeugendes, aber stabiles Ballbesitzspiel brauchte. Bailey links und Weiser rechts waren weder im klaren Zuordnungsbereich der 96-Außenverteidiger noch der eher eng stehenden Halbstürmer. Im Mittelfeldzentrum rückte Hannover dagegen oft auf die beiden Bayer-Sechser heraus, sodass manche Spieler einen direkten Gegner deckten und manche in der Luft hingen. 96 war nicht dauerhaft instabil, aber punktuell anfällig, bevor das Spiel durch den Schneefall ins Nicht-Analysierwürdige kippte.
Gegen Stuttgart war das 5-2-3-Mittelfeldpressing mit noch engeren Manndeckungen der Sechser und zum Teil auch in der Abwehrreihe dagegen kein besonders überzeugender Plan, obwohl eine zur Situation passende, enge Verfolgung der Gegenspieler auch hier ein paar Balleroberungen und dann ordentliche Konter einbrachte. Die beiden Stürmer neben Asano, der Sechser Castro zustellte, rückten zwar nach bestimmten Quer- und Rückpasskombinationen auf die Stuttgarter Halbverteidiger heraus, ansonsten nahmen sie aber Gegenspieler in ihren Deckungsschatten, die ohnehin schon von den 96-Sechsern zugestellt waren.
Diese ineffizienten Positionierungen führten letztlich nur dazu, dass sich Stuttgart auf das Ausspielen des Dynamikvorsprungs vorbereiten konnte, den man gegen einen manndeckenden Gegner im Vorwärtsgang eben hat: Stuttgart staffelte seine Dreierkette im Aufbau breit, entzog sich so einem möglichen unmittelbaren Pressingdruck und spielte vor allem den rechten Flügelspieler Beck so tief an, dass Albornoz zum planmäßigen Herausrücken sehr weite Wege gehen und dementsprechend viel Raum hinter sich öffnen musste. Die Stuttgarter Stürmer Gomez und Esswein, die meistens als Empfänger der von Beck lang nach vorne gespielten Pässe eingeplant waren, zogen dann ihren Gegenspieler mit nach außen und machten wiederum Platz für die zentralen Mittelfeldspieler, die zwar prinzipiell von 96 gedeckt waren, aber eben mit dem Gesicht zum Tor laufen können. Selbst wenn sich auf diese Weise nur wenige klare Durchbrüche für den VfB ergaben, hatten die Stuttgarter einen besseren Zugriff auf die Folgeaktionen und kamen (und gingen auch) aggressiv ins Gegenpressing. Vor allem aber konnten sie auf diese Weise regelmäßig Positionswechsel und Gegenspielerübergaben bei Hannover provozieren.
Das trägt auf Dauer nicht zur Stabilisierung bei und bedeutete selbst im für 96 günstigsten Fall (der Zweikampf hinten wird gewonnen) immerhin einen Raumgewinn für den VfB, während der Weg für 96 zum Tor größer wurde. Man kann das Spiel und seinen Verlauf also so lesen, dass 96 mit dieser Mischung aus abwartendem, am Raum orientiertem Pressing vorne und den Manndeckungen dahinter schlecht gefahren ist. Andersherum kann man gleichzeitig argumentieren, dass man sich nicht konsequent genug auf ein Manndeckungs-Schema eingelassen hat (was auch kein ganz unbekannter Analyseansatz wäre), denn die 96-Defensivformation passte nicht zur Stuttgarter Grundordnung: Sobald Asano nach vorne auf Pavard aufrückte, stand 96 im zentralen Mittelfeld mit seinen beiden Sechsern gegen einen Sechser und zwei Achter beim VfB in Unterzahl (3v2). Das gleiche Problem entstand, wenn die 96-Flügelverteidiger den langen Weg zu ihrem Gegenspieler nicht gingen und dafür einer der Sechser nach außen rückte (2v1).
Außerdem wirkte es durchaus so, als würde die Weinzierl-Elf die Hannoversche Anfälligkeit im Sechserraum (wenn 96 im 5-2-3 spielt) gezielt ausnutzen, wenn sich Esswein oder der vorher nach vorne gelaufene Zuber auf der ballfernen Seite schräg nach hinten fallen ließen und bei Verlagerungen oder für Ablagen relativ frei neben den Sechsern waren. Bei all diesen Bewegungen hatten die 96-Halbverteidiger Sorg und Wimmer entweder unangenehme (Lauf nach außen verfolgen) oder kurzfristig sinnlose (Gegner in freien Raum laufen lassen) Aufgaben zu erfüllen.
Schrittweise Annäherung an gewisse Stabilität
Dass das 96-Spiel in der zweiten Halbzeit in beiden Partien besser wurde, hatte ähnliche Gründe, bringt letztlich aber nicht viel, weil zweite Halbzeiten immer etwas unstrukturierter und offener geführt werden und das schon einen Teil der Leistungssteigerung erklärt. Die Umstellungen auf Formationen mit Viererkette und zwei Stürmern brachte eine bessere Präsenz bei langen und zweiten Bällen, weil ein zusätzlicher Zielspieler ins Spiel kam (Jonathas gegen Stuttgart, Weydandt gegen Leverkusen) und/ oder weil die Mittelfeldspieler anders für die zweiten Bälle organisiert waren. Gegen Leverkusen brachte erst eine Raute mit Maina als Zehner und Haraguchi als Halbspieler etwas mehr Druck auf Abpraller und Ablagen, später besorgte die gesteigerte Offensivpräsenz im flachen 4-4-2/4-2-4 gegen nicht besonders gut für lange Bälle gestaffelte Leverkusener fast einen Punktgewinn. Gegen den VfB war es nach der Pause vor allem das Aufrücken über die Flügel, das durch sehr eng spielende und auf beide Seiten ausweichende Flügelspieler im 4-4-2 gegen Stuttgarts einfach besetzte Flügel zur Leistungssteigerung beitrug (eher 4-2-2-2 und mit Müller, auch hier manchmal rautenhaft mit Haraguchi im Zentrum).
Insofern kann man das Spiel gegen Augsburg vielleicht das erste Mal als wirklich konsequente Fortführung der Trends aus den vorangegangenen Spielen verstehen: Im 4-4-2-Mittelfeldpressing spielte Hannover von Anfang an so, wie zuvor nur in den zweiten Halbzeiten. Diesmal spielte 96 schon in der ersten Halbzeit sehr konsequent lange Bälle auf die Stürmer und erarbeitete sich mit einem ordentlich ausgeführten Pressing auch zwei, drei gute Kontergelegenheiten. Es spielte Hannover natürlich in die Karten, dass gegen Augsburgs 4-2-3-1 einigermaßen natürliche Zuordnungen entstanden, und auch in diesem Spiel gab es natürlich einige Szenen, in denen 96 im Mittelfeld die Passwege in den Augsburger Sturm nicht gut schloss und dann in der Abwehr unter Druck geriet. Aber das Spiel zeigte immerhin, dass man gegen Mannschaften aus dem (unteren) Tabellenmittelfeld nicht mal einen besonderen Plan braucht, um mindestens mithalten zu können.
96 wurde zwar zu passiv, ließ Baier neben den Innenverteidigern zu viele Freiheiten, hatte die Positionswechsel von Ji und Richter nicht immer im Griff und rückte auf den Flügeln wieder etwas zu bereitwillig am Gegenspieler orientiert neben die Abwehrkette, sodass sich 96 zu tief reindrängen ließ. Aber auch wenn das Gebolze und Verteidigen nicht ansehnlich war und auf mittlere Sicht nicht besonders viel Erfolg verspricht, hat es in diesem einen Spiel selbst in dieser rudimentären Ausführung eine Stunde lang gut genug funktioniert, um nur durch zwei Standard-Gegentore geschlagen zu werden. Schon gegen Stuttgart waren ja drei der fünf Gegentore nach ruhenden Bällen gefallen. Müßig, aber ärgerlich: Was wäre vielleicht möglich gewesen, wenn man schon vor ein paar Wochen (oder gar Monaten) einen bestimmten Weg eingeschlagen und dann konsequent verfolgt hätte?
Grundsätzliches abseits des Platzes
Wie man unlängst erfahren durfte, kann 96 froh sein („froh“), dass Horst Heldt sich für Thomas Doll als 96-Trainer entschieden hat. Er scheint nämlich auch einem aktuell nach Anstellung suchenden (?) Trainer gegenüber nicht abgeneigt zu sein, der das gemeine 96-Fanherz nochmal auf einer ganz anderen Systole hätte hüpfen lassen. So ist es dann Thomas Doll geworden, der seine Mannschaft zwar kacke findet, aber gut genug, um sie seine Arbeit machen zu lassen: Gegen Stuttgart durfte sie sich selber für defensive Standardsituationen organisieren. Das ist schon keine überragende Idee, wenn man bedenkt, wie vielfältig die Überlegungen sein können, sich auf überhaupt nur eine einzige Standard-Variante vorzubereiten, wie wir das für die Hinrunde am Beispiel der 96-Eckbälle angedeutet haben. Es kommt dann eben noch hinzu, dass der Gegner in der Regel mehr als eine Variante für Standards hat.
Das dann den Spielern zu überlassen… Kann man natürlich machen, wenn man selber keine Lust hat. Sich hinterher dann über mangelhafte Standardverteidigung zu beschweren, kann man eher nicht machen. Was auch alles nix mit nix zu tun hat: Der „neue Johnny“ unterscheidet sich vom alten Jonathas offenbar dadurch, dass er Tätlichkeiten gegen den Schiedsrichter in sein Repertoire aufgenommen hat. Kein Problem, sein Trainer wird Verständnis dafür haben. Sein Sportdirektor bestimmt auch. Leistungskultur, my ass.
Der alte Jonathas war übrigens ein 29-jähriger Stürmer mit mindestens unsicherer Integrationsprognose und fast zweistelliger Millionenablöse (Wiederverkaufswert = 0) – bei einem Verein mit den Rahmenbedingungen von 96 muss man das eigentlich schon nicht mehr unter Fahrlässigkeit, sondern unter Vorsatz verbuchen. Damals fanden das viele Leute noch gut. Aber um Horst Heldt den benefit of the doubt zu geben: Vielleicht hatte er keine richtige Wahl, man unterstellt sowas ja oft nur. Denn 96 schickte letzte Woche neben seinen beiden Videoanalysten auch seinen Teambetreuer auf eine Konferenz, auf der es um ziemlich fortschrittliche und komplizierte statistische Scouting-Methoden ging. Dass 96 da hin will, ist schon mal gut. Dass die Videoanalysten beim Scouting offenbar mitreden sollen, ist sehr gut, es kennt ja keiner die taktischen Anforderungen ans 96-Spiel so gut wie sie. Und wenn es den Teambetreuer interessiert, umso besser, schaden kann’s nicht. Aber einen Scout (oder Assistent der sportlichen Leitung oder so), der selber hingeht, um den eigenen Scouting-Prozess zu verbessern, scheint 96 nicht zu haben. Vielleicht sind die aber auch alle so gut, dass sie da nichts Neues erfahren hätten. Kann natürlich auch sein.
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