Nachdem der Abstieg auch formal besiegelt ist, rückt die Planung für die neue Saison in der zweiten Liga in den Fokus. Die Frage steht im Raum, ob Doll sich auch am Neuaufbau versuchen darf. Zwei Heimsiege in Folge scheinen das Umfeld milde gestimmt zu haben, auch Thomas Doll sträubt sich offenbar nicht mehr aktiv gegen die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung.
Je oller je doller? (… Ohje.)
Hendrik Weydandt sagte nach dem Sieg gegen Freiburg: „Wir haben gezeigt, was möglich gewesen wäre, hätten wir diese Leidenschaft, dieses Selbstvertrauen in den Spielen auch davor gehabt.“ Auch der kicker fachsimpelt über eine „Hannoveraner Steigerung in der Rückrunde“. Zum Teil sei die Neukapitän, Steuermann und Symbolfigur Bakalorz gedankt, der wiederum beklagt, es hätte ja reichen können, aber „es kam wohl ein bisschen zu spät…“. Dem stimmt Michael Esser zu: „Wir sind zu spät wach geworden und haben auch das nötige Glück nicht gehabt.“
Aber stimmt das überhaupt: hätte es noch, wie Thomas Doll irgendwann mal mutmaßte, reichen können, wenn die Saison noch drei Wochen länger dauern würde? Im Prinzip ist das ja auch die Frage, die die sportliche Führung diskutieren will, wenn sie über die Zukunft auf der Trainerbank berät. Die kurze Antwort lautet: Nee.
Die Langfassung
In den 14 Spielen mit Thomas Doll als Trainer holte 96 einen Punkt mehr als es der Mannschaft unter André Breitenreiters Verantwortung gegen die gleichen Gegner gelang (10 vs. 9). Das bedeutet hochgerechnet auf die gesamte Saison vier bis fünf Punkte mehr, als es mit dem Punkteschnitt aus Breitenreiters Schaffen in dieser Saison zu erwarten wäre. Aber es wären leider auch nur 24 (Komma 3). Mit den 14 erzielten Toren in den letzten 14 Spielen liegt 96 im ligaweiten Vergleich auf einem Abstiegsplatz. Und obwohl die Abwehrleistung auf den ersten Blick stabilisiert scheint (28 Gegentore unter Doll gegenüber 33 im Breitenreiter-Vergleichszeitraum), haben in der Doll-Tabelle nur zwei Mannschaften mehr Gegentreffer hinnehmen müssen.
Schon ein unwesentlich genauerer Blick auf die Zahlen zeigt auch, dass es mit dieser vermeintlichen Stabilität nicht allzu weit her gewesen ist: Pro Spiel hat das Doll-96 gerade mal einen gegnerischen Schuss weniger zugelassen als gegen die gleichen Gegner unter Breitenreiter (16,6 vs. 17,6). Die wirklich gefährlichen gegnerischen Abschlüsse sind sogar noch weniger stark zurückgegangen (6,4 vs. 7 Schüsse aufs Tor pro Spiel). Der Preis, wenn man so will, dieser nur marginalen defensiven Steigerung lag derweil in der Schwächung einer ohnehin nicht besonders produktiven Offensive: Während in den 14 Spielen von Leipzig bis Freiburg in der Hinrunde noch 12,6 Schüsse pro Spiel produziert werden konnten, waren es zuletzt nur noch 10,4. Im ligaweiten Vergleich wäre das sogar Platz 18. Ganz anders sieht es bei den Schüssen aufs Tor aus: Hier hat sich 96 unter Doll nur um einen halben Schuss pro Spiel verschlechtert (von 4 auf 3,5 und damit auf das Niveau aller 19 Saisonspiele unter Breitenreiter). Damit würde 96 auf Platz… 16 rangieren. Ja gut.
Aber der Trend, der ist doch positiv, das sagen doch alle und es fühlt sich so an.
Auch hier die kurze Antwort: nein. Tore und Schüsse geben bei einem Beobachtungszeitraum von 14 Spielen schon ein aussagekräftiges Bild ab. Allenfalls defensiv ist der Trend in den letzten fünf Spielen noch ein bisschen deutlicher positiv, aber 5 Tore in den letzten fünf Spielen (inklusive der drei Treffer gegen ziemlich indisponierte und formschwache Freiburger) rechtfertigen wirklich nicht das Urteil von einer „guten Entwicklung“. Oder überhaupt einer Entwicklung. In den letzten fünf nicht-gegen-Bayern-Spielen liegt zum Beispiel die offensive Produktivität mit 12,4 Torschüssen pro Spiel auch unter dem Schnitt der Breitenreiter-Amtszeit, der ja nachweislich auch zu rein gar nix gereicht hätte. Und gegen Mainz vor drei Wochen (gegen Mainz!) (!!) hat 96 23 Abschlüsse zugelassen. Also, äh… naja.
Wenn man es noch genauer braucht: Das beste, was man auf Grundlage der harten Fakten über die Doll-Amtszeit sagen kann, ist: Dank einer späten Stabilisierung auf wenig erbaulichem Niveau ist es über die gesamte Zeit gesehen immerhin nicht alles noch schlimmer geworden. Das schon unter Breitenreiters Regie hochgradig nervende und von nur wenig Evidenz unterfütterte Gerede von „mangelndem Spielglück“ und „schlimmem Pech“ traf – wie bei jeder Mannschaft der Liga – punktuell zu und hat ansonsten eine systematische Erklärungskraft von ungefähr Null.
96 hatte vor allem in den letzten Spielen sogar mehr Glück als Pech. In den fünf jüngsten Spielen erspielte sich 96 Chancen mit einer Torwahrscheinlichkeit (xG; expected goals) von ungefähr 4,5 Toren und erreichte diesen Wert auch ungefähr mit den tatsächlichen fünf Treffern. Aber 96 ließ Chancen mit einer Qualität für 10 Gegentore zu, musste jedoch tatsächlich nur vier hinnehmen. Und auch über den gesamten Zeitraum von 14 Spielen betrachtet deutet nichts auf Pech hin. Die durchschnittliche Qualität der unter Thomas Doll erspielten Torabschlüsse war im Prinzip genauso schlecht wie unter Breitenreiter gegen die gleichen Gegner (0,076 zu 0,077; sprich: dem durchschnittlichen 96-Abschluss wurde unter Berücksichtigung der Abschlussposition oder der Art der Vorbereitung eine Torwahrscheinlichkeit von ungefähr 8 Prozent zugewiesen), während die gegnerischen Schüsse im Schnitt sogar gefährlicher für das 96-Tor waren (0,116 vs. 0,104 in den Breitenreiter-14). Auf 90 Minuten gerechnet war 96 unter Doll offensiv ungefährlicher (0,79 xG) und die Gegner dem Torerfolg etwas näher (1,9 xGA) als gegen die gleichen Konkurrenten unter Breitenreiter (0,97 xG; 1,8 xGA). Und auch das war ja schon nicht gut.
Taktische Impulse
Die zu Beginn seiner Amtszeit angedeutete Strategie, bekannte taktische Muster und Formationen entweder zu übernehmen oder nur eher geringfügig zu modifizieren, hat sich größtenteils bis zum Ende durchgezogen. Mit unterschiedlichen Formationen im Spiel gegen den Ball brachte 96 in den letzten Spielen meistens ein tragfähiges defensives Gerüst auf den Platz und spielte über weite Strecken gar nicht schlecht gegen den Ball. Ein gewisser positiver Trend zeigte sich in der Intensität im Mittelfeldpressing, die bei vielen taktischen Varianten unter Breitenreiter der guten Idee zur praktischen Veredelung gefehlt hatte. Aber auch, weil zwischendurch wieder das hohe Manndecken eingestreut wurde (z. B. gegen Nürnberg oder Freiburg), das sogesehen einer stringenten Entwicklung der kollektiven Pressingbewegung entgegensteht, waren diese positiven Ansätze immer noch etwas schwankend.
Zwischenzeitlich verlor sich 96 in seinen halbfertigen Ideen und Ansätzen im Ungefähren. Im besten Fall war 96 kompakter und etwas griffiger als vorher: die gegnerische Passquote ging entsprechend leicht rauf von 76,8 auf 78,6, während die Langballquote von 16,1 (Breitenreiter-14) auf 12,4 sank; zusammen mit dem durchschnittlichen Anteil an gegnerischen Pässen in dessen erstem Drittel, der von 17,8 auf 15,6 % runter ging, deutet das auf einen schnelleren Übergang ins Mittelfeld. Dafür kam 96 etwas öfter in direkte Zweikampfsituationen in Form von Tacklings (rauf von 19,7 (B-14) auf 23,8; jeweils ballbesitzgewichtet).
In der Endabrechnung kann man aber wohl sagen, dass zumindest im Hinblick auf die Defensive die gelungenen Matchplane (z. B. Leverkusen, Frankfurt, Gladbach) die weniger überzeugenden Anpassungen überwogen (z. B. Stuttgart, Hoffenheim, Mainz) oder zumindest die Bilanz nicht deutlich negativ ist. Wie das Leverkusen-Beispiel aber auch schon andeutete, sind manchmal Details so entscheidend, dass der gesamte Plan mehr oder weniger zusammenfallen konnte und dann schlechter aussah, als er eigentlich hätte sein können. Das Bayern-Spiel war in dieser Hinsicht exemplarisch. Aber es war auch ansonsten ziemlich interessant, weil es einige Rückgriffe auf taktische Elemente der jüngeren 96-Geschichte gab: Von Anfang an auf das gegen Bayern naheliegende 5-4-1 zu verzichten, wie schon Breitenreiter es mehrmals versucht hatte; Ostrzolek als Sechser wie einst in der Schlussphase gegen Leverkusen; Walace als zweithöchster Pressingspieler erinnerte an Frontzecks Idee mit Gülselam als Pressingzehner, aber Walace ist nicht nur im Pressing wesentlich schwächer, sondern war vor allem für die konkreten Herausforderungen des Spiels gegen Bayern keine gute Wahl, in dem die Hauptaufgabe für einen Spieler in seiner Position gegen das bayerische Gegenpressing darin besteht, das Spiel möglichst schnell zu machen – dafür gibt es kaum schlechter geeignete Spieler im 96-Kader als Walace.
Prinzipiell war der Plan mit Ostrzolek als Manndecker für Müller und der davon ausgehenden Umbildung zur Fünferkette gegen die Flügel-Bayern auch nicht schlecht, aber es scheiterte wieder an ein paar konkreten Punkten: Die klaren Zuordnungen der Flügelspieler zu den FCB-Außenverteidigern und -Flügelstürmern waren wegen Positionsrochaden (Kimmich ins Zentrum, Gnabry einrückend) oder wegen der unpassenden Verteilung eher ein desorganisierender Faktor, statt die Abwehr zu festigen: Haraguchi hatte als der defensiv wesentlich kompetentere Flügelspieler auf der ungefährlicheren Bayern-Seite wenig zu tun, während Maina auf der besseren Seite einige Fehler im Abwehrverhalten machte.
Diese mangelhafte Umsetzung ließ den Plan dann schlecht aussehen. Gewissermaßen legte Maina die Gründe offen, die die meisten Trainer eben davon abhalten, wie Doll auf die Fünferkette zu verzichten: Wenn ein Mittelfeldspieler nicht richtig mitspielt, steht der Außenverteidiger gegen die beiden vehement angreifenden Bayern-Flügelspieler in Unterzahl. Er verliert dann nicht nur mit großer Wahrscheinlichkeit die Duelle, sondern kann den Innenverteidigern gegen die beiden Stürmer und die nachrückenden Mittelfeldspieler auch keine Unterstützung bieten. Wegen der meistens tiefen Verteidigungslinie finden die folgenden Durchbrüche auf dem Flügel dann in Tornähe statt und werden fast automatisch gefährlich. Der zusätzliche Spieler im Mittelfeld (bzw. im Sturm, der aber funktional sowieso eher Mittelfeld ist) bringt einem derweil nicht viel, weil er entweder vorne verschenkt ist (die beiden Innenverteidiger werden sowieso nicht angelaufen und zum Zustellen des tieferen Sechsers braucht man keine zwei Spieler) oder im Mittelfeld überspielt wird und zumindest keinen unmittelbaren Zugriff hat.
In fast allen Spielen waren für die Offensive aber nicht Fragen der Umsetzung das Problem, sondern schon der Plan war dünn. Natürlich auch wegen der Verletzungssituation musste beispielsweise Weydandt Aufgaben erfüllen, die er nunmal nicht auf Bundesliga-Niveau erfüllen kann: Lange Bälle festmachen und ablegen. Dass sich der Großteil der Angriffsbemühungen in der Maßgabe „langer Ball auf Weydandt“ erschöpfte, hilft dann natürlich nicht. Aber auch grundsätzlichere Probleme müssen in den Blick genommen werden, wenn etwa wie gegen Nürnberg oder Mainz in vermeintlichen Endspielen zu Hause eine rein aufs Kontern ausgerichtete Mittelfeldraute aufgeboten wurde, die nicht zur Spielsituation und zum Teil auch nicht zu den Spielertypen passte. Gegen Nürnberg war 96 auch deshalb über den Großteil der Spielzeit einem Gegner in Unterzahl spielerisch unterlegen und gegen Mainz wurde der Unterschied zu einer tatsächlich funktionierenden Raute umso deutlicher. Diese taktischen Entscheidungen sind nicht nur mit dem Fehlen von Bebou und Füllkrug zu erklären.
Nur für das Freiburg-Spiel kann von einem stimmigen offensiven Plan gesprochen werden. Mit dem 3-1-4-2/ 5-1-2-2 und mit Bebou und Bakalorz als vertikal sehr gefährlichem Zwischenlinienraum-Duo neben dem raumintelligenten Prib zog 96 ein punktuell sehr gutes Steil- und Ablagenspiel auf. Indem 96 das Mittelfeld fast ausschließlich vertikal bespielte, musste sich Freiburg zwischen Zugriff vorne und Überzahl hinten entscheiden und konnte seine eigentliche Stärke, das Verschieben und die Pressingintensität zu den Seiten, gar nicht erst einbringen. 96 gelang es mal wieder, das Spiel schnell und ein bisschen chaotisch zu machen, setzte dabei aber die Impulse und bestimmte das Geschehen.
Deshalb konnte Freiburg auch gar nicht erst versuchen, die defensive Anfälligkeit zu provozieren, von der man bei einer Aufstellung mit Ostrzolek als Halb- und Maina als Flügelverteidiger ausgehen muss. Ob das allerdings auch gegen einen weniger lasch auftretenden Gegner in einem bedeutsamen Spiel gelingen würde, kann man aus diesem Spiel eher nicht ablesen. Das 96-Potenzial beim Spiel in die Tiefe hat es aber allemal widergespiegelt.
Also?
Wenn die Frage lautet, ob die 14 Spiele unter Thomas Doll Hinweise darauf gegeben haben, dass mit ihm ein Neuaufbau angegangen werden soll, lautet die kurze Antwort aus verschiedenen Blickwinkeln nein. Das setzt allerdings voraus, dass man aus der Situation, die Doll vorfand und in der er seine Entscheidungen traf, auch Erkenntnisse für eine ganz andere Situation in der nächsten Saison ableiten kann. Das kann man zum Teil, zum Teil aber auch nicht. Welcher dieser beiden Teile überwiegt, ist also die eigentlich zu beantwortende Frage. Das müssen dann andere machen. Was bleibt ist jedenfalls die Erkenntnis, dass 96 weder in den 14 Spielen seit dem Trainerwechsel, noch davor, noch in den letzten drei oder fünf Spielen mehr als nur andeuten konnte, dass der direkte und ziemlich chancenlose Abstieg nur eine Laune der Natur gewesen wäre.
Leave a Comment