Nach den ersten Pflichtspielen scheint sich die auch für 96-Verhältnisse große Aufregung während der Vorbereitung vorerst gelegt zu haben. Die überwiegend für souverän erklärten Auftritte, wahrscheinlich mehr noch die gut klingenden (Zwischen-) Ergebnisse im Pokal und Ligaauftakt haben die Wogen geglättet. Inhaltlich blieben in den Test- und bisherigen Pflichtspielen dagegen manche Fragen offen, deren weitere Beobachtung in den nächsten Wochen lohnen könnte.
1) Welche Formation passt am besten?
Die Formation mit der Raute im Mittelfeld, die mit guten Gründen als wesentlicher Erfolgsfaktor in der Endphase der vergangenen Saison gelten konnte, wurde durch die Transferaktivitäten zunächst in Frage gestellt. Die beiden hochkarätigen (und einzig hochpreisigen) Spieler des Kaders, standen in einer entgegengesetzten Beziehung zur Erfolgsformation: Während Anton alle für die Rolle des Solo-Sechsers wichtigen Aufgaben gut bis sehr gut erfüllte und dementsprechend unverzichtbar war und nur schwer zu ersetzen, war Maina das prominenteste Opfer des neu gefundenen Spielsystems. Weniger ballfordernd, instabiler im Dribbling und wesentlich weniger pressingkompetent als Haraguchi, blieb ihm kaum Einsatzzeit als Zehner; das auf frühe Pässe in die Sturmreihe ausgelegte Spiel bot außerdem keine Aussichten, ihn als beweglichen zweiten Stürmer einzusetzen. Da aber Anton früh abgegeben wurde und Maina blieb, kann man argumentieren, dass die Raute nicht unbedingt die Formation ist, mit der das Potenzial des Kaders am besten verwirklicht werden kann (immer vorausgesetzt, man hält Maina für einen der/ den talentiertesten Spieler des Kaders).
Insofern erschien es folgerichtig, dass in den ersten (relevanten) Testspielen gegen Kerkrade und Uerdingen (wieder – wie letzte Saison als Entwicklungsschritt vor der Raute) ein 4-3-3 aufgeboten wurde. Mit Haraguchi als Achter (gegen Kerkrade zunächst links, aber das wurde schnell korrigiert) wurde seine Omnipräsenz im 96-Offensivspiel im Vergleich zur Raute konserviert (bzw. eigentlich sogar noch gesteigert, da er zwar der beste 10er im 96-Kader ist, aber die 10 noch nie unbedingt seine beste Position darstellte). Die beiden Flügelstürmer-Positionen passen auf dem Papier auch gut zum neuen Kader, der anders als letzte Saison keine klare Schwachstelle auf den Flügeln mehr hat. Für Maina, Schindler, Evina und Twumasi bleibt eine Formation mit offensiven Flügelspielern weiterhin die beste Lösung, sei es als 4-3-3 oder 4-4-2.
Letzteres spielte 96, wie schon in der vergangenen Saison, in den Schlussphasen gegen Würzburg im Pokal und gegen Karlsruhe und ist wohl auch nur als Option für zweite Halbzeiten wirklich aussichtsreich: zu groß wären die Opfer, die einem 4-4-2 als Startformation gebracht werden müssten, wenn man sich zwischen der für den Spielaufbau wichtigen physischen Präsenz im Sturm und einer guten Rolle für Haraguchi entscheiden müsste. Mit der späten Verpflichtung von Jaka Bijol, der Antons Nachfolge als Solo-Sechser antreten soll, wäre auch der klare Vorteil des 4-4-2 gegenüber einem System mit einem Spieler vor der Abwehr dahin, sollten sich die Hoffnungen in den Slowenen erfüllen: Frantz und Kaiser sind bestenfalls Übergangs- oder Notlösungen als Solo-Sechser, Elez dort aufzustellen war für die zu erwartenden Herausforderungen gegen Karlsruhe eine interessante und sinnvolle Entscheidung, erscheint aber auch nicht wie eine tragfähige Dauerlösung.
Aber auch weil der Sturm, sowohl im Hinblick auf die Kaderstärke-ausschöpfen-Überlegung als auch vor dem taktischen Hintergrund (frühe Pässe in die Spitze, Ablagen und Diagonalläufe, viel Druck in die Tiefe erzeugen), eher eine Zwei-Mann-Lösung nahelegt, geriet das 4-3-3, das ja nur einen klaren Zielspieler kennt, vielleicht ins Hintertreffen. Kenan Kocak wird also weiterhin schwierige Personalentscheidungen zu treffen haben und hat auf der anderen Seite, was man schon jetzt sagen kann, diese Saison mehr Formations-Möglichkeiten, um sich an Gegner oder Spielverläufe anzupassen.
Trotzdem wirkt es bisher nicht so, als wäre die Raute auch in dieser Saison wieder der formative sweet spot des Kaders, der möglichst wenige Kollateralschäden verursacht. Perspektivisch könnte man in dieser Hinsicht schon eher in Richtung von Dreier-/Fünferkettensystemen gucken, wenn noch ein linksfüßiger Innenverteidiger dazukommen sollte. Sowohl ein 5-2-1-2 als auch ein 5-2-3 mit entweder offensiver besetzten Flügelverteidigerpositionen (etwa Schindler als rechtem Wingback) oder mindestens einer breiten Sturmrolle (Maina oder Twumasi entweder neben einem klaren Zentrumsstürmer oder in einer asymmetrischen Anordnung mit Ducksch links und Weydandt zentral). Gegen Karlsruhe sah es zwischendurch auch mal nach 5-2-1-2 aus, aber das war so kurzlebig, dass eine individuelle Anweisung an Elez plausibler wirkt, die dann für die Pressingbewegungen der Mitspieler bestimmte Folgen hatte, die dann zumindest vorübergehend anders aussahen als die klassischen Muster mit der Raute.
2) Das Pressing wackelt(e)
Das Pressing ist auch der Punkt, der in den Testspielen für das größte Fragezeichen sorgte – nicht weil es so schlecht oder weil es besorgniserregender als die spielerischen Defizite gewesen wäre, sondern weil es ja gerade das hohe Zustellen und Anlaufen aus der Raute heraus war, was 96 zuletzt so stark gemacht hatte. Dieses mannorientierte Aufrücken mit klaren Zuordnungen versuchte 96 dem Anschein nach in den ersten Testspielen im 4-3-3 zugunsten eines stärker im Raum und am Ball orientierten Pressings hinter sich zu lassen. Wie es für solche Übergangsversuche nicht unüblich ist, kam dabei eine Mischung aus dem alten, gewohnten und dem neuen, noch nicht richtig sitzenden Verhalten heraus. 96 wollte weiterhin hoch pressen und viel Intensität gegen den Ball zeigen, hatte aber im Anlaufen Probleme, weil es eben keine klaren 1-zu-1-Zuordnungen mehr gab, wie sie mit der Raute und ihrer 2-1-Staffelung in vorderster Linie gegen die meisten Mannschaften automatisch entstehen.
Gegen Uerdingen rückte oft der ballferne Achter neben Stürmer Ducksch auf, um den anderen Innenverteidiger (den Nicht-Ducksch-Gegenspieler) nach einem Quer- oder Rückpass anzulaufen, sodass mit dem dahinter absichernden zweiten Achter eine 4-2-3-1-Struktur entstand. Solchen einigermaßen stabilen Anpassungen standen aber auch nicht gerade wenige Szenen gegenüber, in denen die Halbräume neben Frantz nicht besetzt und von keinem Deckungsschatten versperrt waren.
Außerdem fiel als vermeintliche Abweichung im Detail, die aber nicht zu unterschätzende Auswirkungen hatte, der veränderte Anlaufwinkel auf den Flügeln auf. Statt durch den diagonal nach vorne zum gegnerischen Außenverteidiger gerichteten Pressinglauf der Rauten-Achter eine Verschiebedynamik nach vorne auszulösen, mussten sich aus dem 4-3-3 (bzw. dem etwas tieferen 4-1-4-1) die Flügelstürmer bei ihrem Anlaufen der Außenverteidiger eher seitlich, manchmal sogar leicht nach hinten orientieren, worunter der kollektive Druck auf den Ball ein wenig litt.
Mit der Raute gegen Bremen und in den Pflichtspielen wurden diese Probleme oder zumindest offenen Fragen vorerst umgangen und auch die Qualität des Pressings war ungefähr wieder auf dem Niveau der letzten Saison. Aber es zeigte sich gegen Bremen doch auch, dass die Ausrichtung auf klare Zuordnungen für ungewöhnlichere Strukturen des Gegners anfällig ist, sodass der Impuls, so es ihn denn gab, sich in der Vorbereitung nach Alternativen umzusehen, absolut richtig erscheint: Gegen Bremens 4-2-2-2 (als Umformung aus dem 5-3-2 mit Erras zwischen den Innenverteidigern) konnte zwar ein Rauten-Achter neben Zehner Sulejmani aufrücken, aber die Bremer Außenverteidiger waren so eben auch prinzipiell von unmittelbaren Gegenspielern „befreit“.
Dieser konkrete Fall dürfte im Ligaalttag weniger relevant werden, aber in diesem Spiel zeigte sich auch in Phasen, in denen 96 tiefer verteidigte, die Anfälligkeit der Raute im zweiten Drittel nach Verlagerungen. Gegen das grundsätzliche Problem, das Zentrum auch dann noch kompakt zu halten, wenn Zehner und Achter aus ihren Positionen herausrücken, gab es in einigen Szenen sowohl gegen Bremen, Würzburg und kurzzeitig gegen Karlsruhe eine taktische Lösung, die letzte Saison nur gegen 96 verwendet wurde (von den Brachialmanndeckern von St. Pauli), nie aber von Hannover selbst: Nicht die Achter rückten gegen die Außenverteidiger des Gegners heraus, sondern die eigenen Flügelverteidiger bewegten sich früh und weit aus der Abwehrkette nach vorne. (Außerdem spielte Ducksch gegen Karlsruhe, siehe etwa die Szene vor dem 1:0, breiter und hielt den Linksverteidiger im Deckungsschatten, um dann im Bogenlauf seinen Innenverteidiger zu stören, was eine coole Option für die Zukunft sein könnte.) Zumindest phasenweise oder situationsbedingt könnte diese Variante auch in den nächsten Wochen Anwendung finden, sollte es bei der Raute bleiben.
3) Aus dem Spiel geht (noch?) wenig
Zwar schoss 96 in den Testspielen relativ viele Tore, die reine Anzahl verdeckte aber ein wenig die Tatsache, dass der Großteil aus Standardsituationen resultierte und aus dem freien Spiel heraus wenig echte Torgefahr erzeugt werden konnte. Zum Teil lag (und liegt allgemein) das auch daran, dass das sehr zielstrebige und druckvolle Spiel in die Tiefe, das 96 von hinten heraus aufzuziehen versucht, automatisch fehleranfällig ist und eben auch viel Ausschuss produziert: Entweder der Ball kommt gefährlich an die oder hinter die gegnerische Abwehrreihe (siehe das sicher glückliche und für den Spielverlauf wichtige 1:0 gegen Würzburg) oder eben nicht. Situationen, aus denen heraus 96 abwarten sollte und sich bessere Angriffsoptionen erspielen kann, gibt es relativ selten zu sehen.
In der Vorbereitung gab es für das Erzeugen der Offensivdynamik ein paar kleinere Muster, die sich vornehmlich auf dem linken Flügel abspielten. Ein wichtiges dahinterstehende Prinzip scheint zu sein, einem von hinten angespielten Mitspieler (idealerweise Haraguchi) Zeit zum Aufdrehen zu verschaffen und gleichzeitig mehrere Optionen im Sturm für Sprints in die Tiefe und für Diagonalläufe zu haben. Damit kann der Gegner in der Abwehr ständig beschäftigt und relativ plötzlich unter Druck gesetzt werden, auch wenn der Ball nicht unmittelbar beteiligt und der Angriff noch nicht absehbar gefährlich ist.
Zur Vorbereitung der Anspiele ins Mittelfeld oder direkt auf die Stürmer bildete 96 dazu, wie schon letzte Saison, oft Dreierreihen, indem entweder der Rauten-Sechser zentral abkippte (Kaiser übernahm dann meistens den vakanten Raum vor der Abwehr, sodass ein 3-1-4-2 entstand). Oder aber, was etwas häufiger zu sehen war, 96 kompensierte den noch immer relevanten Mangel an linksfüßigen Aufbauspielern mit einer asymmetrischen Aufbaureihe mit einem nicht aufrückenden, manchmal sogar einrückenden Linksverteidiger. Oft besetzte in Spielen mit der Raute Stürmer Ducksch die Breite auf der linken Seite, damit 96 sich nicht des ballnahen Achters als Entlastungs- und Verlagerungsstation beraubte, wenn der Ball vom linken Außenverteidiger nicht nach vorne gebracht werden konnte. Standen die Außenverteidiger tiefer, etwa um gegen Karlsruhes (und manchmal Würzburgs) hohes 4-3-3-Pressing eine Überzahl in der ersten Linie zu schaffen, zeigten sich Hults sehr gute Auftaktbewegungen (kein statischer erster Ballkontakt, sondern gleich ein „Richtung-Machen“ mit der Annahme) und kleine Dribblings als gute Option, um etwas Variation in einen Spielaufbau zu bringen, der in manchen Phasen statisch und zu positionsgetreu wirkte.
Wesentlich zum „Anspielen“ der schnellen Positionsangriffe (im Unterschied zum Konter, was 96 weiterhin ganz gut beherrscht) ist auch das Andribbeln der Innenverteidiger. Beide Stammspieler auf diesen Positionen ragten in dieser Hinsicht bislang nicht wirklich heraus. Alleine schon durch die Bewegung mit dem Ball nach vorne an sich ermöglichen sie aber immer ein Aufrücken des ballnahen Achters und des Flügelspielers. Auch das Zurückpendeln der Rauten-Achter, um eine kurze Anspielstation für die Außenverteidiger herzustellen und sich vom Flügel wieder zu lösen, funktionierte bisher gut genug, sodass sich 96 kaum mal auf einer Seite festspielt. Sowohl im 4-3-3 als auch mit der Raute wäre es für die Zukunft wichtig, nach dem Andribbeln der Verteidiger noch öfter als bisher das Anspiel ins Zentrum auf Haraguchi zu forcieren, um nicht so abhängig davon zu sein, dass die Stürmer lange Bälle erfolgreich auf den nach wie vor wichtigsten Offensivspieler ablegen (zumal das im 4-3-3 mit Ducksch als Zentrumsstürmer eher unwahrscheinlicher wird).
4) Strategie
Auch, wenn solche Grundsatz-Überlegungen nach nur zwei Pflichtspielen verfrüht erscheinen, kann man auch mit dem Wissen aus der letzten Saison wohl einen groben Trend zusammenfassen: 96 lebt im Großen und Ganzen davon, durch das intensive und hohe Pressing sowie durch die physische Präsenz (der Innenverteidiger, Achter und Stürmer auf jeweils ihre eigene Art) das Spiel so weit zu kontrollieren bzw. im Griff zu behalten, dass der Gegner nie wirklich dominieren kann: Er hat keinen richtig ruhigen Aufbau und kann sich andererseits auch im Pressing nie wirklich am Gegner festbeißen, weil 96 sich wiederum gar nicht wirklich „festspielen“ möchte.
Die gegnerischen Mannschaften werden in den meisten Spielen also relativ viel dafür tun müssen bzw. relativ lange darauf warten müssen, in gefährliche Zonen oder aussichtsreiche Dynamiken zu kommen. Auf Grund ihrer mitunter deutlich geringeren individuellen Qualität (Karlsruhe und Würzburg waren in der Hinsicht ideale Anschauungsbeispiele) werden diese nicht oft auftretenden Szenen dann nur selten wirklich gefährlich zu Ende gespielt. Der KSC zum Beispiel hatte eine ganz gute Spielanlage (trotz einiger Aufbaufehler gegen das hohe 96-Pressing) und hat auch mit hinterlaufenden Außenverteidigern guten Schwung ins letzte Drittel mitnehmen können, zeigte dann aber dann auch immer wieder Timingprobleme beim Spiel im letzten Drittel, hat Pässe zu lasch gespielt oder einfach auch keine wirkliche Präsenz in der letzten Linie gehabt.
Andererseits hat 96 eben die Qualität, aus relativ wenig relativ viel zu machen, hat einige gute Synergien vorne (Ducksch-Haraguchi links, Kaisers aufrückende Rolle passt gut zu den Stürmern, Hult-Haraguchi könnte evtl. noch was werden) und eine insoweit passende Spielanlage, dass auch ohne große eigene spielerische Impulse genug Torgefahr erzeugt werden kann, um mindestens Augenhöhe zu garantieren. Das ist aber auch ein Punkt, den man kritisch betrachten kann: reicht das (sowohl inhaltlich in Spielen gegen weniger unterlegene Mannschaften, aber auch für den Selbstanspruch?) oder muss es nur vorerst reichen, weil eine spielerische Weiterentwicklung noch erfolgen wird? Sollte sich an dieser Herangehensweise allgemein wenig ändern, kann man schon davon ausgehen, dass der „unspezifische Dominanz ausstrahlen“-Plan zwangsläufig auch mal schiefgehen wird, was verhältnismäßig unnötig wäre. Im Moment sieht es aber so aus, als ob sich unsere Vermutung aus der letzten Saison bestätigt:
Wir können aber wohl davon ausgehen, dass Robustheit, Intensität und Wucht mit einer Betonung auf das Spiel gegen den Ball auch in der nächsten Saison die grundsätzliche Charakteristik des 96-Spiels beschreiben werden. Die spielerischen Elemente werden diesen Grundmotiven eher zuarbeiten und sie ergänzen, als dass der Zusammenhang andersherum wäre. Die taktischen Eingriffe Kocaks während der Spiele, seine Personalentscheidungen und die grundsätzliche taktische Entwicklung haben unabhängig davon aber schon dafür gesorgt, dass man sich an diesem Ende der Gleichung keine großen Sorgen um 96 machen muss.
[…] hervor – wobei Defizite als Begriff vermutlich nicht treffend ist, eher handelte es sich um taktische Einschränkungen, die zur strategischen Einfältigkeit führten (oder aus ihr hervorgingen, man weiß es ja […]