„Krise“ und „Abstiegskampf“ in Hannover! Der VfB Stuttgart reist in die niedersächsische Landeshauptstadt. Doch auch bei 96 läuft es bekanntlich nicht allzu berauschend. Stimmte zu Beginn der Rückrunde zunächst lediglich der Blick auf die Resultate nachdenklich, ließen in den jüngsten Partien auch mehr oder weniger große Teile der spielerischen Leistung nach.
Das Ergebnis: 96 steht im Duell gegen den Tabellenletzten und vor den folgenden Begegnungen mit den großen Namen der Liga unter Druck. Drei Punkte werden benötigt, doch anstrengungslos werden diese nicht zu erreichen sein. Die Stuttgarter sind ihrerseits nicht weniger angewiesen auf Zählbares, im Gegenteil. So ist im Umfeld beider Mannschaften zuletzt zu vernehmen, dass „ein Sieg Pflicht“ sei. Eine interessante Formulierung, wenn man bedenkt, dass die Leistungsdichte der 16,5 normalen Vereine der Bundesliga in dieser Saison mehr denn je die irrige Annahme widerlegen sollte, es gäbe so etwas wie Pflichtsiege. Aber es hilft alles nichts, „ein Sieg muss her“.
Der Blick auf die taktische Herangehensweise des Gegners verdeutlicht jedoch, dass dieses Unterfangen schwieriger werden könnte, als dem gemeinen 96-Fan lieb sein kann. Um besser auf das Spiel vorbereitet zu sein, haben wir uns daher mit dem Macher des Blogs vfbtaktisch über das Auftreten der beiden Mannschaften ausgetauscht. Im folgenden Abschnitt legt er die Stärken und Schwächen des VfB Stuttgart dar. Zudem diskutierten wir vor dem taktischen Hintergrund beider Teams, wie das Spiel möglicherweise verlaufen könnte. Das Ergebnis dieser Überlegungen kann im zweiten Abschnitt nachgelesen werden. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass ein 96-Sieg auf dem Papier leider wohl nicht wahrscheinlicher als ein anderes Ergebnis ist. Zumal sich bei den Stuttgartern schon seit Saisonbeginn ein durchgängiges Kuriosum erkennen lässt: Meist sitzt mehr fußballerisches und taktisches Potential auf der Ersatzbank oder gar Tribüne, als man auf dem Spielfeld bestaunen kann.
(Das Gegenstück zu diesem Vorbericht mit der Zusammenfassung der 96-Spielweise und den Stuttgarter Anpassungen kann HIER gefunden werden. An dieser Stelle danken wir sehr herzlich für die angenehme und enorm hilfreiche Zusammenarbeit beim Erstellen der Vorschau!)
Der Gegner
Wie sieht die taktische Entwicklung des VfB in letzter Zeit aus?
Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit beim VfB verordnete Huub Stevens der zuvor offensiv ausgerichteten, aber im letzten Drittel extrem ineffektiven und instabilen Stuttgarter Mannschaft ein sehr reaktives System mit rigiden Manndeckungen in fast allen Mannschaftsteilen. Das sorgte zunächst einmal für eher instabile Leistungen, weil der VfB dafür den Zugriff auf die Aufbaureihen der Gegner einbüßte und im Mittelfeld immer wieder Lücken aufgingen. Nach und nach wurden diese Mannorientierungen dann zurückgefahren und flexibler ausgelegt. Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung steht heute ein defensivstarker, aber dafür offensiv recht verwahrloster VfB. Neben dem schwierigen Auftaktprogramm sind die großen Schwierigkeiten beim Toreschießen auch mit dafür verantwortlich, dass sich die deutlichen Verbesserungen im Spiel gegen den Ball (noch) nicht in den Ergebnissen widerspiegeln und die ersten Partien der Rückrunde äußerst erfolglos verliefen. Entsprechend niedergeschlagen grüßt der VfB aktuell von Tabellenplatz 18.
Kommen wir zur Spielweise. Welche Merkmale prägen den Stuttgarter Spielaufbau?
Im Gegensatz zu den ersten Spielen unter Stevens, als noch relativ kompromisslos gebolzt wurde, sucht der VfB inzwischen durchaus Möglichkeiten im flachen Spielaufbau. Wenn der Gegner langsam ins Pressing aufrückt, lässt der VfB den Ball gerne zwischen Torwart und Verteidigung zirkulieren, um den Gegner anzulocken und das Mittelfeld ein wenig zu öffnen. Meistens konzentriert man sich dabei auf die sehr spielstark und intelligent besetzte rechte Seite, wo Baumgartl, Romeu und Schwaab oder Sakai (eventuell unterstützt von Moritz Leitner) versuchen, das gegnerische Pressing aufzulösen oder rechtzeitig den langen Ball spielen. Eine wirklich ausgearbeitete Organisation oder besondere Bewegungsmuster gibt es allerdings nicht. Spielerische Glanzlichter aus den hinteren Reihen sind beim VfB eher individueller Natur; diese sind aber auf keinen Fall zu unterschätzen.
Und danach? Was fängt der VfB zurzeit mit dem Ballbesitz an?
Bisher setzte Stevens auf den vorderen Positionen praktisch ausschließlich auf defensivstarke Spieler, was eigentlichen Außenverteidigern wie Hlousek und Klein oder auch laufstarken Flügelstürmern wie Martin Harnik viele Einsatzzeiten bescherte. Die Kehrseite davon liegt auf der Hand: Das Stuttgarter Offensivspiel zeichnet sich in erster Linie durch Einfachheit und damit auch Limitiertheit aus.
Konkret sieht das dann folgendermaßen aus: In der ersten Aufbauphase rücken die Angreifer sehr eng zusammen, um möglichst kompakt auf den zweiten Ball zu stehen. Wird der Ball dann im Mittelfeld gesichert, werden klare Bewegungen ausgelöst: Die Außenspieler rücken nach vorne, die Achter unterstützen auf den Seiten, und der Stürmer weicht ein wenig aus oder fällt kurz in den Halbraum zurück. Im Idealfall soll der Ball dann direkt in die Spitze gebracht werden; wenn das nicht geht, wird neu aufgebaut oder man rückt über den Flügel auf. Ganz sporadisch deuten sich auf der halbrechten Seite um Leitner herum auch etwas komplexere Mechanismen an; diese wurden aber bislang eher zögerlich kultiviert und sind noch nicht richtig an das restliche Spiel angeschlossen.
Ein großes Problem, das wiederum auch auf die defensive Stabilität rückkoppelt, wird dann augenscheinlich, wenn Stuttgart zu längeren Ballbesitzzeiten kommt und versucht, offensiver zu werden. Häufig bilden die Schwaben dann sehr flache und hohe Staffelungen direkt an der gegnerischen Abwehr, die nicht nur schwer zu bespielen sind, sondern auch keine guten Voraussetzungen fürs Gegenpressing bieten. In diesem Fall, der zum Beispiel bei Rückständen oder abwartenden Gegnern eintreten kann, wird der VfB oft anfällig für Konter.
Da 96 wohl den Ball haben wollen wird: wie tritt Stuttgart im Pressing auf?
Gegen den Ball agiert der VfB meist in einer passiven 4-4-1-1- oder 4-1-4-1-Formation mit vielen Mannorientierungen, die recht flexibel und mit einigen Entscheidungsfreiheiten gespielt werden. Meistens wird die gegnerische Doppelsechs von den Achtern gedeckt, wobei sehr weite Bewegungen, zum Beispiel beim Abkippen, nicht verfolgt, sondern in den Raum oder an die erste Pressinglinie übergeben werden. Der gegnerische Zehner wird dann häufig vom Sechser aufgenommen und aus der Zone vor der Abwehr herausgedrängt. Die Flügelspieler bleiben vorerst auf ihrer Position und schieben dann je nach Situation entweder weit in die Mitte ein, oder nehmen den aufrückenden Außenverteidiger des Gegners in Manndeckung, was dann oft situative Fünferketten hervorbringt. Besonders im letzteren Fall kann der jeweilige Außenverteidiger dann sehr aggressiv den gegnerischen Flügelstürmer attackieren; besonders Rechtsverteidiger Schwaab macht das mitunter sehr weiträumig und taucht dann schon mal irgendwo im Mittelfeld auf. Das wird aber kaum zum Problem, weil der VfB gerade auf der flexiblen rechten Seite meist eine gute Balance hinbekommt und nur selten klare Lücken öffnet. Links sieht das etwas anders aus: Hlousek oder Werner spielen typischerweise etwas mannorientierter als Gegenüber Klein und gliedern sich häufiger in die Abwehrkette ein. Deshalb finden Gegner hier oft Aufrückräume für den rechten Innenverteidiger oder einen herausgekippten Sechser.
Neben dieser sowohl im Zentrum, als auch auf den Flügeln kompakten und stabilen Grundausrichtung gibt es einen weiteren Grund für die Stuttgarter Defensivstärke: Huub Stevens ist sehr gut in der Spielvorbereitung und findet, bis auf gelegentliche Ausnahmen, stets kluge Anpassungen an den Gegner. Das Manndecken eines spielstarken Innenverteidigers, Asymmetrien und veränderte Mittelfeldstaffelungen sind gern genutzte Mittel.
Das Spiel
Der letzte Punkt in der Darstellung der VfB-Defensivspielweise verdeutlicht bereits das wesentliche Problem einer solchen Vorhersage: die gegnerspezifischen Anpassungen beider Trainer sind nicht verlässlich abzuschätzen. Je nachdem, welche strategische Entscheidung Huub Stevens dabei trifft, kann sich der Rhythmus des gesamten Spiels verschiedenartig entwickeln. Es ist denkbar, dass der Stuttgarter Trainer seine Mannschaft gegen den Hannoverschen Spielaufbau ein wenig leitend bzw. lockend antreten lässt. So könnte der VfB in einer 4-1-4-1- Formation pressen, die eine gute Anpassung an die Bewegungen der zentralen Mittelfeldspieler Hannovers zulässt. Dazu könnte Stuttgart Marcelo etwas mehr Platz lassen als auf der anderen Seite Schulz/Sané, um Hannover auf die Seite zu drängen und dort Ballgewinne durch die guten Zweikämpfer zu forcieren. In diesem Fall könnte Stuttgart mit dem extrem schnellen Werner und dem auch nicht gerade langsamen Harnik zu gefährlichen Kontern ansetzen, was sich gerade bei der hoch stehenden Abwehr Hannovers und dem zuletzt nicht immer allzu griffigen Gegenpressing als sehr problematisch erweisen würde. Auch einige der zuletzt zu häufig aufgetretenen Ballverluste der kombinierenden 96-Spieler im offensiven Mittelfeld bieten für die auf dem Papier sehr konterstarke Stuttgarter Elf vielversprechende Gelegenheiten. Selbst wenn Hannover es auf Grund besserer Absicherung des Ballbesitzes ins Gegenpressing schaffen sollte, verfügen die Schwaben in Oriol Romeu über einen extrem beschlagenen Mittelfeldakteur, der mit klugen Pässen nach Balleroberungen auch unter Druck gefährliche Konter einleiten kann. Zuletzt spielte Stevens Elf solche Gelegenheiten jedoch nicht besonders gut aus und war zu schlicht im Nachrücken. Daraus könnte folgen, dass Stuttgart nach Ballgewinnen im Mittelfeld durch leichte Anpassungen im Pressing zwar zu einigen Umschaltsituationen kommt, diese aber größtenteils verpuffen und sich ein relativ unansehnliches Spiel ergibt.
Auf der anderen Seite wird Hannover 96 wohl gewohnt hoch pressen und intensiv anlaufen, um die durchaus spielstarken Verteidiger des VfB nicht in Ruhe aufbauen zu lassen. Bisher konnten die Stuttgarter keine besonders stabile Ballzirkulation zeigen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der VfB wegen der individuellen Qualität von Schwaab, Baumgartl und Sakai durchaus das ein oder andere Mal den Druck Hannovers überspielen können wird. Zu einem konstant planvollen Angriffsspiel sollte dies dennoch nicht führen, da 96 durch das disziplinierte Verschieben zum Ball die zaghaften Ansätze von Ballbesitz-Mechanismen bei Stuttgart kontrollieren können müsste. Eine bedenkenswerte Anpassung aus Sicht Hannovers ergibt sich aus der Besetzung der Abwehrreihe der Gäste. Je nachdem, ob Schwaab erneut als Rechtsverteidiger mit Baumgartl neben ihm aufgeboten wird oder letzterer durch Schwaab ersetzt wird, ist die Spielstärke und Kreativität im Aufbau auf die rechte Seite fokussiert. Wie bereits gegen den Hamburger SV wäre also eine vertikale Staffelung in der ersten Pressinglinie und eine generelle Asymmetrie Hannovers ratsam, bei der Joselu und der linke Flügelspieler höher stehen als Stindl halbrechts. So würde man das Spiel auf den linken Stuttgarter Innenverteidiger lenken, der dann von Stindl aus der Tiefe angelaufen werden kann und unter diesem Druck zu langen Bällen gezwungen würde. Kann 96 dem Gegner auf diese Weise beikommen, müsste sich die robuste und kopfballstarke Besetzung des Zentrums gegen Stuttgart durchsetzen können.
Während die Stuttgarter Konterstärke auf Grund der zuletzt immer wieder gesehenen Probleme Hannovers ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotential darstellt, sind auch in der Spielweise Hannovers Merkmale angelegt, die die Schwächen des Gegners offenlegen können. Die – wenn auch zuletzt gelockerte – mannorientierte Defensivspielweise der Stuttgarter kann von den flexiblen Bewegungen der Mittelfeldakteure im Angriff durchaus bespielt werden. Vor allem das Zurückfallen Joselus könnte sich dabei als effektiv erweisen, um zumindest kurzzeitig Räume in der letzten Linie zu öffnen. Ergänzt mit den aufrückenden Bewegungen Briands und eventuell auch den zentrumsorientierten Bewegungen Kiyotakes besteht das Potential, für gehörige Unordnung im Verbund der Schwaben zu sorgen. Jedoch muss einschränkend erwähnt werden, dass es dabei auf die Umsetzung der Stuttgarter ankommt; sind diese gut aufeinander abgestimmt, hält sich der positive Effekt der Flexibilität Hannovers in Grenzen. 96 müsste das Tempo im Ballbesitz erhöhen, um für Verwirrung beim VfB zu sorgen. Das wiederum erhöht das Risiko von Ballverlusten, was dem VfB nur gelegen kommen kann. Dennoch hatte Hannover auch bei den schwächeren Auftritten immer wieder einzelne gute Mechanismen im Angriffsspiel zu bieten. Da die Stuttgarter grundsätzlich defensiv stabil und einigermaßen kompakt auftreten, ist nicht davon auszugehen, dass sich 96 mehrere hochkarätige Torchancen erspielen wird. In einzelnen Momenten wird es Hannover wohl wie auch zuletzt gelingen, zu Abschlüssen zu kommen. Da die mangelnde Durchschlagskraft aus dem Spiel heraus aber ohnehin besteht, bleibt die Wichtigkeit hoch, möglichst die erste gute Gelegenheit zu nutzen.
Insgesamt ist es also durchaus wahrscheinlich, dass Hannover wie mittlerweile üblich die deutliche Mehrheit des Ballbesitzes auf seiner Seite verzeichnen kann. Die Zirkulation im ersten Drittel sollte wie gewohnt größtenteils unproblematisch ablaufen. Je nach Anpassungen Stevens könnte Stuttgart dann Hannover in bestimmte Räume auf den Flügeln locken und dort auf Ballgewinne gehen um schnell zu kontern. Sollte Hannover die bekannten Aufbaumechanismen mit den zurückfallenden Mittelfeldspielern schnell genug ausspielen können, könnten sich für Stuttgart Probleme wegen der mannorientierten Ausrichtung ergeben. Wie jedoch auch im Angriffsspiel müsste dafür das Tempo der Aktionen erhöht werden, was die Anfälligkeit für Ballverluste ansteigen lässt. Sichert 96 diese nicht gut genug ab, kann es ungemütlich werden – dafür muss Stuttgart jedoch einen guten Tag im Ausspielen der Konter erwischen. Beide Mannschaften haben eigentlich in den bisherigen Auftritten Elemente gezeigt, mit denen sie dem Gegner weh tun können. Beide Mannschaften leben also wohl in der ständigen (wenn auch eher mittelgroßen) Gefahr, mit wenigen Aktionen das Spiel abzugeben. Doch hier zeigt sich erneut, was bereits im Eingangstext erwähnt wurde: es wird voraussichtlich auf die Tagesform ankommen, Kleinigkeiten können entscheiden sein. Schafft es 96, die Ballbesitzfortschritte der jüngeren Vergangenheit gut durchzubringen, stehen die Chancen auf Sieg gut. Schafft es Stuttgart, die nicht immer gut abgesicherten Ballverluste Hannovers zu gefährlichen Kontern zu nutzen, stehen die Chancen auf Sieg nicht schlecht. Kleinere Anpassungen können den Charakter des Spiels aber wohl nicht grundsätzlich verändern: es wird eher kein Spektakel. Es erwartet uns wahrscheinlich ein eher zähes, abwartend geführtes Geduldsspiel, bei dem beide Seiten gewisse Fehler zwingend vermeiden müssen. Der Spielverlauf wird ebenfalls eine wie gewohnt wichtige, nicht zu prognostizierende Rolle spielen. Ein ganz normales Bundesligaspiel also, in einer für beide Seiten eher unangenehmen Drucksituation.
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